Sibel Kekilli:"Hass gebe ich überhaupt keinen Raum"

Jury Photocall - 12th Zurich Film Festival

Sibel Kekilli hatte selbst vor einigen Jahren die Idee für ein Drehbuch.

(Foto: Andreas Rentz/Getty Images)

Die Schauspielerin Sibel Kekilli erzählt von Rassismus, ihrem zweiten türkischen Kinofilm und der finnischen Serie "Bullets", in der sie eine Terroristin spielt.

Interview von Theresa Hein

Als Frau, die den Zwängen eines traditionellen Elternhauses entkommen will, hatte sie in Gegen die Wand ihren Durchbruch, die Rolle einer Kurtisane in Game of Thrones machte sie weltberühmt. In Bullets, einer finnischen Thrillerserie, spielt Sibel Kekilli, 39, jetzt eine Terroristin. Am Telefon erzählt sie von ihrer Faszination für gebrochene Charaktere.

SZ: Frau Kekilli, in Bullets spielen Sie eine international gesuchte Terroristin, die junge Frauen für Selbstmordattentate rekrutiert. Wie viel Sympathie kann man für so eine Figur haben?

Sibel Kekilli: Sagen wir's so: Ich habe kein Verständnis für die Menschen, die so etwas machen. Und trotzdem will ich sie verstehen, das ist ein Unterschied. Warum handelt diese Frau so? Warum mag man die Figur - oder nicht? Madina Taburova hat ihre Gründe, sie hat einige Schicksalsschläge erlebt, ich will jetzt nicht zu viel verraten. Sie ist völlig überfordert. Dadurch schließt sie sich dieser terroristischen Gruppierung an. Als sie aussteigen möchte, lässt man ihr keine Wahl und benutzt sie erst als Drogenschmugglerin, dann erpresst man sie und droht, ihre Tochter umzubringen. Mit so einem Kontext beginnt man ihr Handeln ein Stück weit zu verstehen, das bedeutet aber nicht, dass ich es gutheiße.

Warum hat Sie die Rolle angesprochen?

Wegen der Brüche innerhalb des Charakters. Es hätte mich als Schauspielerin nicht genügend herausgefordert, wenn sie "nur" eine schwarze Witwe, eine Terroristin aus Tschetschenien wäre, die rein aus Hass oder Wut agiert. Aber bei ihr gibt es eine psychologische Ebene, die mich interessiert, nicht nur schwarz-weiß Denken.

Einige Szenen in der Serie sind nicht leicht anzusehen, zum Beispiel, wenn Madina Taburova sich bereit macht, Drogen in ihrem Körper zu schmuggeln. War der Dreh emotional belastend?

Als Schauspieler hat man nicht alles in der Hand, man ist nicht Kapitän, sondern immer nur Matrose. Der Schnitt, den Ton, das Bild, das machen die anderen. Ich versuche aber, meinen Job so gut zu machen, wie ich kann. Eine Szene, die mich sehr beschäftigt hat, war die Szene, in der Madina Taburova ihr Kind in den Armen wiegt, und dann hört, wie ihr Mann erschossen wird. Das hat mich schon mitgenommen.

Was heißt das konkret? Können Sie dann nachts nicht schlafen?

Das nicht, aber ich bin ununterbrochen in der Figur drin. Ich denke am nächsten Tag immer noch über den vorigen Drehtag nach, hätte ich dieses oder jenes anders machen sollen? Wieso macht die Figur das, was denkt sie? Ich kann nicht loslassen. Während der Zeit des Drehs fällt mir das zumindest extrem schwer. Ich habe dann am liebsten niemanden um mich herum, der mich ablenkt. Während ich drehe, bin ich eigentlich privat nicht zu gebrauchen.

Weil Sie sich selbst synchronisieren, mussten Sie alle Ihre Szenen noch mal ansehen. Suchen Sie da auch nach Fehlern?

Immer. Aber ich sehe mir alle Filme und Serien noch mal an, auch, um zu wissen, wie der Endschnitt aussieht.

Ganz schön sadistisch, viele Kollegen hüten sich davor, Filme noch mal anzusehen.

Das ist schon eine Qual. Natürlich denke ich dann "Was? So kucke ich? So laufe ich?" Beim ersten Sehen scanne ich ständig nach Fehlern im Spiel und im Film. Erst beim zweiten Mal kann ich loslassen und mich auch auf die Story konzentrieren.

Wie war die Atmosphäre am Set? Der Stoff von Bullets - Drogenschmuggel, Terror - ist ja nicht gerade leichte Kost.

Ach, wissen Sie, manchmal ist es für alle einfacher solchen schwierigen Themen mit einer gewissen Leichtigkeit zu begegnen. Aber das kommt immer auf die jeweilige Situation an, man schafft es natürlich nicht immer.

Sie haben zuletzt seit Langem einmal wieder in der Türkei gedreht.

Ja, einen türkischen Kinofilm. Es ist mein zweiter rein türkischer Film in dreizehn Jahren. Bei einer Szene habe ich gesehen, wie der Drehbuchautor des Films, der hinter der Kamera stand, den Raum verlassen musste, weil die Atmosphäre für ihn so schwer zu ertragen war. Eine Bekannte, die mich am Set besucht hat, meinte: Sibel, hier geht's ja zu wie bei einer Beerdigung.

Um Himmels willen. Worum geht es in dem Film?

Ich will nicht zu viel verraten, es ist ein Independent-Film. Ich spiele eine Figur, deren Bruder verschwunden ist. Man weiß nicht, wohin, und was genau passiert ist. Der Vater der Geschwister ist verrückt geworden und wartet im Dorf auf seinen Sohn. Ich spiele die Schwester des Verschwundenen, die in Deutschland arbeitet, aber jeden Monat zu ihrem Vater zurückkehrt, um nach ihm zu sehen. Jeder geht anders mit dem Verlust um.

Noch vor zwei Jahren haben Sie einen Filmdreh in der Türkei abgesagt. Was war diesmal anders?

Ich habe schon etwa ein halbes Jahr überlegt, ob ich das machen soll. Aber der Regisseur hat so für mich gekämpft, dass ich nicht anders konnte. Ich wollte dieses Team einfach gerne unterstützen. Ich mochte das poetische Drehbuch, die Rolle, den Cast, die Arbeit des Regisseurs.

Haben Sie gezögert, weil Sie Angst vor Anfeindungen hatten?

Auch. Und man weiß ja nicht, wie die politische Situation in der Zeit ist, in der man dort arbeitet. Da musste ich schon überlegen: Bin ich sicher, werde ich freundlich empfangen? Aber alles ist gut gelaufen.

Warten Sie noch auf negative Reaktionen?

Ganz ehrlich: Hass gebe ich überhaupt keinen Raum. Es ist eine gute Arbeit geworden, und ich habe mich dabei wohlgefühlt. Darum geht es doch.

Bullets ist eine sehr düstere Serie. Wäre die auch als rein deutsche Produktion möglich gewesen?

Das weiß ich nicht. Ich habe mich jedenfalls immer schon für solche Themen interessiert. Was treibt einen Menschen zu solchen Taten? Ich hatte vor zehn, fünfzehn Jahren mal gemeinsam mit einem Regisseur ein Treatment für ein Drehbuch geschrieben, da ging es um ein ähnliches Thema, auch um eine schwarze Witwe. Da war aber die Zeit noch nicht reif dafür, Selbstmordattentate in Europa waren da noch nicht so "aktuell", aber die Zeit hat sich da leider verändert.

"Weltoffenheit und Tradition stehen sich leider irgendwie im Weg"

Sie wollen also selbst in Zukunft auch schreiben?

Ja, gerne, warum nicht. Ich hab nur noch nicht den passenden Co-Autor dafür gefunden, damit man gemeinsam überlegen kann, was man wie umsetzen kann.

Worüber würden Sie denn ein Drehbuch schreiben?

Das verrate ich nicht!

Zurück zur Serie: Da stehen zwei Frauen im Vordergrund, die beide ihre Identität verschleiern. Sie spielen die Rolle einer Frau, die auch nur eine Rolle spielt.

Und das finde ich auch so interessant an ihr. Beide Frauen, nicht nur die von mir gespielte Madina Taburova, sondern auch Mari Saari, eine Undercoveragentin, sind ja irgendwie auf Identitätssuche. Und diese Identitätssuche war der Punkt für mich: Ich glaube, dass Identitätssuche nichts ist, was aufhört, sondern, dass viele Menschen immer wieder auf der Suche sind und mit sich hadern. Phasenweise. Vielleicht auch das ganze Leben lang.

Sprechen Sie da auch von sich?

Ich denke, das gilt allgemein. Und ja, natürlich bin auch ich durch meine deutsch-türkische Kultur immer wieder auf Identitätssuche.

Kann man traditionsbewusst und trotzdem weltoffen sein?

Ich denke, Weltoffenheit und Tradition stehen sich leider irgendwie im Weg. Aber das gilt für jede Kultur.

Sie engagieren sich für Gleichberechtigung, zum Beispiel bei Terre des Femmes, für das Frauennetzwerk Unidas sind Sie mit Heiko Maas nach Südamerika gereist. Wie gerecht ist Deutschland?

Ich glaube, es gibt keine Gleichberechtigung für Frauen, das beziehe ich aber nicht nur auf Deutschland. Als ich dieses Jahr nach Mexiko gefahren bin, habe ich erfahren, dass dort alle drei Minuten eine Frau vergewaltigt wird. Wegen der Korruption werden die meisten Fälle gar nicht erst zur Anzeige gebracht. In dem einem Land gibt es mehr Gleichberechtigung, in einem anderen Land weniger. Ich bin froh, dass ich hier in Deutschland aufgewachsen bin, und dass ich viele Freiheiten genieße. Aber zu 100 Prozent gerecht? Ist es auch hier nicht.

Erleben Sie das auch im Beruf?

Ja, das fängt schon bei Rollenangeboten an. Ich meine das ganz nüchtern, nicht böswillig: Schauen Sie sich mal an, was im Fernsehen läuft: Es gibt zum Beispiel eine Buddykultur, sowohl auf, als auch hinter dem Bildschirm. Zwei, drei Kumpels tun sich zusammen und schreiben eine Serie über zwei, drei Kumpels. Das gibt es bei Frauen einfach nicht. Vor Kurzem habe ich darüber mit einer Kollegin gesprochen: Gibt es hier Frauenfreundschaften in Film und Fernsehen, mit denen ich mich identifizieren kann? Nein, da fällt einem dann nur Sex and the City ein.

Sie bekommen immer wieder Hassmails und Morddrohungen. Sind die mehr geworden, seit Sie sich politisch engagieren?

Nein, das ist immer gleich viel. Drohungen und Mails gibt es seit Gegen die Wand. Natürlich kriegt man das inzwischen durch die sozialen Medien unmittelbarer mehr mit, die Beschimpfungen sind anonym und dadurch schneller passiert. Die Menschen erklären das dann mit Meinungsfreiheit. Aber Hass und Meinungsfreiheit haben nichts miteinander zu tun.

Sie haben vorher angesprochen, dass Sie an Ihrer Rolle als Madina Taburova reizte, dass sie keine schwarz-weiß gezeichnete Figur ist. Haben Sie das Gefühl, wir verlernen das Denken in Grautönen?

Auf jeden Fall. Es ist ja viel anstrengender, Grautöne zu sehen. Das würde heißen, dass man Verständnis aufbringen muss, für Menschen oder Themen, mit denen man sich nicht so auskennt. Und Verständnis aufbringen, das ist immer aufwendig. Es ist viel einfacher, schwarz-weiß zu denken, und es tut nicht so weh. Verurteilen ist leichter, als sich mit dem Gegenüber zu beschäftigen, auch mit dem, was hinter einer Haltung steckt, mit Schmerz, den man vielleicht noch nicht verstehen kann.

Im vergangen Jahr schrieben Sie in einem Gastbeitrag in der Zeit, "Ich bin für die Türken zu deutsch, für die Deutschen nicht deutsch genug." Wie viel Rassismus erleben Sie im Alltag?

Jeden zweiten oder dritten Tag passiert irgendwas. Das können Kleinigkeiten sein.

Ein aktuelles Beispiel?

Ich hatte erst kürzlich mit einem anderen Journalisten ein Interview. Da habe ich das Thema türkische Kultur nicht, wie jetzt, von mir aus angesprochen. Trotzdem ging es dann fast nur um das eine Thema, von meiner Arbeit wollte der Journalist kaum etwas wissen. Das empfinde ich als Alltagsrassismus, das kann dann auch niemand mit "Neugier" entschuldigen. Man fragt doch auch einen deutsch-amerikanischen Schauspieler nicht ständig nach Trump, oder einen deutsch-russischen Schauspieler nicht die ganze Zeit über Russland. Wenn mich jemand fragt, "Und, warst du mal wieder in deiner Heimat?", dann ist das für mich rassistisch.

Verletzt Sie das noch?

Mich ärgert das eher. Ob mich diese Anmerkungen verletzen, oder nicht, ist meine Entscheidung. Ich habe mich entschlossen, dem anderen diese Macht gar nicht erst zu geben. Wenn man das nicht selbst erlebt, kann man das nur schwer nachvollziehen. Dann heißt es: "Was bist du denn so empfindlich? Das ist doch nur ein Spruch." Aber die Leute machen sich keine Gedanken. Das ist so, wie wenn man einem Mann erklären möchte, "Du, als Frau kannst du bestimmte Dinge einfach nicht so machen wie als Mann". Zum Beispiel verreist ein Mann alleine anders, als eine Frau, die alleine verreist. Wissen Sie, was ich meine?

Klar.

Das versteht aber ein Mann nicht. Ein Mann denkt sich nicht: "Kann ich mit 15 Leuten alleine in einem Raum schlafen, die ich nicht kenne? Oder in einem abgelegenen Ort in Indien in einem Hotel übernachten?" Man ist als Frau auf Reisen alleine einfach wesentlich vorsichtiger. Das ist schade, aber das ist so. Natürlich gibt es Männer, die das auch verstehen, aber viele andere eben nicht, weil sie das noch nie erlebt haben.

Bullets. RTL Crime und TV NOW, ab Dienstag, 20.15 Uhr.

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