Ortsbesuch:Musk und die Dichter

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Fahrt ins Grüne: ein Tesla am zukünftigen Standort. (Foto: Getty Images)

Tesla baut seine deutsche "Gigafactory" in einer Brandenburger Landschaft, die voller poetischer Geschichten steckt. Ein Besuch in Grünheide.

Von Hilmar Klute

Irgendwo zwischen Erkner und der Station Fangschleuse muss das Bahnwärterhaus gestanden haben, wo der elend mutlose Thiel seine einsamen Stunden verbrachte, die Schrauben der Gleise anzog, die exzentrischen Farben des Himmels bewunderte und die Gewitterstürme ebenso tapfer aussaß wie seinen Schmerz über die Misshandlungen, welche seine fette, böse zweite Frau Lene seinem kleinen zurückgebliebenen Sohn Tobias antat. Bis eines Tages - aber lesen Sie selbst!

Gerhart Hauptmanns Novelle "Bahnwärter Thiel" hat dieser waldreichen Landschaft südöstlich von Berlin ein immerwährendes Denkmal gesetzt. Der Dichter, spätere Nobelpreisträger und noch später auf Hitlers Gottbegnadetenliste erstarrte Dichtergreis wohnte in jungen Jahren mit seiner Familie in der Villa Lassen in Erkner.

Fangschleuse - hier steigt man aus, wenn man nach Grünheide laufen möchte. Dorthin, wo der Elektroauto-Hersteller Tesla bis 2021 seine deutsche Werkvertretung errichten will, eine "Gigafactory", wie sie im irren Megablödmänner-Sound unseres Zeitalters genannt wird. Noch sind die Planungsunterlagen nicht eingetroffen, die Grundlage für das Genehmigungsverfahren liegt also noch nicht auf dem Tisch. Noch also kann man sich den Ort Grünheide anschauen, ohne über die Zukunft der Mobilität sprechen zu müssen. Man darf also ein bisschen über das Vergangene plaudern, über die Zeiten, in denen Grünheide so etwas wie die Sommerfrische der deutschen Avantgarde gewesen ist. Und man kann sich vorstellen, wie die junge Großstadtfrau Lotte Lenya im Sommer 1924 am Bahnhof Fangschleuse stand, um den etwas scheuen, fast kahlen und stahlbebrillten Komponisten Kurt Weill abzuholen und zu ihrem gemeinsamen Freund Georg Kaiser zu bringen, der in jenen Jahren als Theaterdichter so berühmt war, wie er heute vergessen ist. Weill sollte die Musik für Kaisers Revue "Silbersee" schreiben.

Ernst Rowohlt feierte hier sein hedonistisches Verlegerleben

Der Silbersee war der Peetzsee, der direkt vor Kaisers Villa lag. Mit dem Boot sind Weill und Lotte über den See gefahren, und als sie am anderen Ufer angekommen waren, sollen sie beide sehr zerzaust ausgesehen haben. Weill wurde Bert Brechts großer Liederkomponist und Lotte Lenya Weills Ehefrau und seine, ein bisschen wohl auch Brechts, Seeräuber-Jenny.

Wenn man die lange Straße vom S-Bahnhof Fangschleuse in Richtung Grünheide läuft, sieht man hinterm Ortseingang die Gedenktafel für Ernst Rowohlt, der hier sein kraftvoll hedonistisches Verlegerleben mit Autoren und Doppelbock feierte. Seine dritte, keineswegs letzte Ehefrau Elli Ehrhardt besaß ein Haus in der heutigen Karl-Marx-Straße 1 - es ist immer noch schön anzusehen mit seinem zwergenmützenroten Dach. Rowohlt, der als geschickter Teufelstänzer mit den Nazis galt, befehligte in Grünheide eine mehr lächerliche als heroische Volkssturm-Einheit, die aus eher älteren Männern bestand und ihren Lieblingsaufenthalt in den nahen Fichtenwäldern sah. Als die Russen kamen, im Mai 1945, floh Rowohlt nach Hamburg, wo seine künftige vierte Frau auf ihn wartete.

Grünheide mit seiner stattlichen Seenplatte ist ein Ziel für Ausflügler und Freizeitsportler. Und immer doch auch ein Ort, der mit der deutschen Geschichte zu tun hatte. Im weißen Haus in der Burgwallstraße verbrachte der Chemiker Robert Havemann, den die SED in ihrem neuen Staat zuerst als wissenschaftlichen Vorzeigestar feierte, die letzten Jahre seines Lebens wie ein Gefangener - von der Stasi überwacht und gedemütigt. Das Haus beim Möllensee ist inzwischen verkauft. Aber die Bilder bleiben. Das Foto des von seiner Lungenkrankheit ausgemergelten Havemann mit dem neben ihm hockenden Wolf Biermann ist deutsch-deutsche Ikonografie. Der Sänger durfte den sterbenden Freund noch einmal besuchen, 1982 fuhr Biermann über die Grenze nach Grünheide, schwer bewacht von der Sicherheit, die er in seinen Spottliedern in die Ewigkeit gerettet hatte. Sieben Jahre später schrieb er ein schönes Lied über einen Tagtraum. Havemann sitzt im Kirschbaum seines Gartens und ruft dem Gast zu: "Komm Dichter, komm dichter an mich ran."

Noch dichter dran als Wolf Biermann war Helga M. Novak an der Märkischen Landschaft. Zwischen Erkner und Fangschleuse verbrachte die 1935 geborene Dichterin, die zugleich eine der unbekanntesten des Landes geblieben ist, ihre Jugendzeit. Ihr Leben fand außerhalb statt, in Island, später in Polen. Am Ende wohnte sie wieder in ihrem Elternhaus. Warum? "Damit ich fürderhin mein Leben friste", schreibt sie in ihrem Band "Grünheide Grünheide", "in einem Nest wie Fangschleuse."

© SZ vom 07.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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