Polen:Demontage aufgehalten

Das Oberste Gericht kippt Teile einer Reform, mit der die Regierung die Justiz unter Kontrolle bringen wollte. Und es stellt fest: Europäisches Recht steht über einheimischem Recht.

Von Florian Hassel, Warschau

People take part in an anti-government protest in support of free judiciary in Poznan

Demonstration für eine unabhängige Justiz in Poznán (Posen).

(Foto: AGENCJA GAZETA/REUTERS)

Das Oberste Gericht Polens hat ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) umgesetzt und zwei zentrale Institutionen für rechtswidrig erklärt, mit denen Polens Regierung die Justiz unter ihre Kontrolle bringen will. Der Beschluss des Obersten Gerichts bedeutet eine dramatische Zuspitzung im Kampf um die Unabhängigkeit der Justiz in Polen und im angespannten Verhältnis Warschaus zur EU.

Ein dreiköpfiges Richtergremium erklärte am Donnerstag zwei Institutionen in Polen für nicht rechtmäßig: Es sind dies die neue Disziplinarkammer am Obersten Gericht sowie der sogenannte Landesjustizrat (KRS). Dieser ist in Polen sowohl für die Auswahl von Richtern zuständig wie für die Wahrung der Unabhängigkeit der Justiz. Doch wird er seit Anfang 2018 von der nationalpopulistischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) kontrolliert. Das stellt nach Meinung von Kritikern einen Angriff auf die Gewaltenteilung dar.

"Der KRS ist in seiner heutigen Form kein unparteiisches und von der Legislative und Exekutive unabhängiges Organ", urteilten die Richter. Das Gleiche gelte für eine neue Disziplinarkammer am Obersten Gericht, die weitgehend autonom ist und jeden polnischen Richter, Staatsanwalt, Anwalt oder Notar disziplinieren und entlassen kann. Sie wurde aus Gefolgsleuten der Regierung gebildet. Die Disziplinarkammer stelle eine Art Sondergericht dar, das außerhalb jeder Kontrolle stehe, bemängelten die Richter. So etwas dürfe es "ausschließlich in Kriegszeiten" geben. Sie sei "kein Gericht im Sinne des Rechtes der Europäischen Union und ist deshalb auch kein Gericht im nationalen Rechtsverständnis". Das Oberste Gericht bekräftigte, dass das europäische Recht dem polnischen Recht übergeordnet sei. Und es stellte fest, dass "jeder polnische Richter und jedes polnische Staatsorgan die Pflicht" habe, EU-Recht umzusetzen.

Damit folgt das Oberste Gericht einem EuGH-Urteil vom 19. November. Alle seit 2018 getroffenen Entscheidungen des KRS sowie der Disziplinarkammer sind nun anfechtbar oder ungültig. Das Urteil bezieht sich auch auf die rund 40 Richter am Obersten Gericht selbst, die vom KRS ausgewählt wurden. Die Folgen sind gravierend: Insgesamt können alle Urteile von mehr als 550 Richtern angefochten werden, die seit Anfang 2018 nicht unabhängig ernannt wurden. Das dürfte auch für die neuen Verfassungsrichter Stanisław Piotrowicz und Krystyna Pawłowicz gelten, die zuvor als Parlamentarier der Regierungspartei an der Demontage der Justiz beteiligt gewesen waren.

Polens Regierung gibt sich indes unnachgiebig. KRS-Chef Leszek Mazur erklärte, das Urteil des Obersten Gerichts habe "keinerlei Einfluss auf das Funktionieren des KRS und der Disziplinarkammer" und "keinerlei reale Konsequenzen". Am Obersten Gericht wird möglicherweise noch eine andere der insgesamt fünf Kammern ebenfalls über die Unabhängigkeit von KRS und Disziplinarkammer urteilen. Diese andere Kammer ist zwar eigentlich nicht zuständig, doch wird sie von der Regierung kontrolliert. Ihr rechtlicher Status ist fragwürdig. Sie ist eigentlich für Kontrollaufsicht und öffentliche Angelegenheiten zuständig und kann in Polen jedes rechtskräftige Urteil der letzten Jahren aufheben. Das bezeichnen Fachleute der Venedig-Kommission als "Rückkehr zur Sowjetjustiz". Die EU und unabhängige polnische Richter dürften indes nur die Entscheidung vom Donnerstag anerkennen. Damit spitzt sich der Streit zu.

Doch auch abseits vom Obersten Gericht verstärkt die Regierung den Druck auf unabhängige Richter. Der EuGH hatte am 19. November das Recht jedes polnischen Richters bekräftigt, unter Berufung auf übergeordnetes EU-Recht zu urteilen: Dies taten seitdem mehrere Richter - etwa Paweł Juszczyszyn am Bezirksgericht Allenstein (Olsztyn). Daraufhin wurde er von Polens Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro degradiert. Der regierungsabhängige Disziplinarbeauftragte schloss Juszczyszyn von der Rechtsprechung aus.

Gegen den Richter Krystian Markiewicz, Vorsitzender des Richterbundes Iustitia, wurde am Mittwoch ein Disziplinarverfahren wegen 55 angeblicher Vergehen und der "Missachtung der Rechtsordnung der Republik Polen" eröffnet. Der Richterbund kämpft für die Unabhängigkeit der Justiz. Unter anderem bestreitet Richter Markiewicz die Unabhängigkeit von KRS und Disziplinarkammer.

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