Ausstellung:Das Wilde in uns

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Mit feinen Antennen reaktiviert Judith Egger verborgene Instinkte

Von Jutta Czeguhn

Verloren wirkt dieser kleine Strohhaufen, wie er da versucht, über die Straße zu kommen. Zögernd setzt er einen Fuß über die Bordsteinkante, um ihn gleich wieder zurückzuziehen. Es ist dunkel, es regnet, und der Fluss der Autos ist gnadenlos. Keine Chance für das seltsame Wesen auf zwei Beinen, das da im Münchner Feierabendverkehr irrlichtert, als hätte es ein sadistischer Gott dort ausgesetzt. Man weiß nicht recht, ob man die zerzauste Kreatur nun niedlich oder unheimlich finden soll, die da auf den improvisierten Video-Screens im Maximilansforum immer wieder auftaucht. Mal stapft das Geschöpf zwischen den Pfeilern einer Straßenbrücke, mal treibt es sich bei den Stämmen eines Holzlagers herum oder durchquert bei dichtem Schneetreiben einen Wald. Wie ein Tier, das auf der Hut ist, beobachtet von einem Jäger? Oder einem Naturfilmer? Von uns? Das Auge einer sehr stillen Kamera jedenfalls wahrt stets wohlwollende Distanz.

"Es ist dieses unerforschte Wesen, dem ich versuche, nahezukommen, und das mir immer wieder entwischt", sagt Judith Egger zu ihrer aktuellen Schau "Lauschen und Lauern". Seit Jahren betreibt die Münchner Künstlerin Feld- und Tiefseelenforschung, um auf etwas zu stoßen, das viele Namen hat: das Unkontrollierbare, Unkalkulierbare, Unbekannte, Unbeherrschte. Judith Egger nennt es "Wildnis", in vollem, lustvollen Bewusstsein, dass der Begriff hoch aufgeladen ist. Im Mittelalter war die Wildnis der Ort des Bösen, für die Naturphilosophen der Aufklärung hingegen die Gegenwelt zum kulturellen, zivilisatorischen Korsett, die Utopie einer ursprünglichen, vollkommenen Ordnung. Für Judith Egger ist dieses Wilde weder zu verdammen noch zu idealisieren: "Es sind Anteile, die jeder von uns hat, aber wegdrückt, weil sie vielleicht unangenehm erscheinen. Damit beschneiden wir uns in unserer eigenen Lebendigkeit."

Es trifft es wahrscheinlich, Judith Egger einen Expeditionsmenschen zu nennen, der mutig losläuft, ohne den Ausgang einer Unternehmung zu kennen. Die Künstlerin, Jahrgang 1973, stammt aus einer Familie von Wissenschaftlern, sie hat sich in Oberammergau zur Holzbildhauerin ausbilden lassen und später am Royal College of Art in London Kommunikation, Kunst und Design studiert. Bei ihren Installationen, Foto- und Videoarbeiten, in ihren Performances agiert Egger gerne in Prozessen, Experimenten. Kunst und Wissenschaft dürfen sich dabei befruchten, wie 2017 in ihrer Schau "Ursprung - eine Versuchsannäherung" in der White Box, wo sie sich unter "Laborbedingungen" mit dem Biophysiker Dieter Braun zusammentat und zum Beispiel ihre sagenhafte Urknallbrille entwickelte.

Feldforschung à la Judith Egger: Als wanderndes Ortungsgerät, das mit den Bäumen im nächtlichen Paris kommunizieren will. (Foto: Judith Egger/oh)

"Lauschen und Lauern" ist nun die Fortsetzung dieses Projekts mit anderen Mitteln, vor allem jenen intensiver physischer Selbsterfahrung. Judith Egger erzählt, wie sie, ausgerüstet mit einem Schlafsack, im winterlichen Gebirge unter freiem Himmel übernachtete. "Man schläft nicht so gut, weil immer irgendetwas knackt", sagt sie. Alle Sinne seien total angespannt gewesen, auf eine gute Art jedoch. Instinkt! Sie habe nach so einer Nacht in der "Wildnis" ihre Umgebung viel intensiver wahrgenommen, sich viel verbundener gefühlt.

Das Maximiliansforum, jener Ausstellungsort des Kulturreferats unter dem lauten Altstadtring, scheint wie gemacht dafür, sich auf Unbekanntes einzulassen, hinunterzusteigen ins Basement der eigenen Existenz: In den totgelegten Rolltreppen wuchert ein Pflanzenurwald, es ist immer ein wenig einsam, kalt und unheimlich da unten. Und die Kunst hinter den riesigen Schaufensterscheiben zweier abgetrennter Räume springt unbedarfte Passanten zumeist wie aus dem Hinterhalt an.

Judith Eggers Methode, sich und der Welt lauernd und lauschend zu nähern, strukturiert auch ihre Schau. Das Lauern findet in einer Art Jagdrevier statt, Holzscheite, Blätter auf dem Betonboden, ein Jägerstand. Durch die Glasscheibe - zu jeder Zeit einsehbar - kann man dort auf diversen Videoscreens Eggers unerforschtem Strohwesen auf seinen Wanderungen folgen. In einer Zelthütte werden am 18. Januar (17 Uhr) der Philosoph Andreas Weber und die Künstlerin ins Gespräch kommen, Thema "Wir sind alle Wilde".

Als Strohhaufen auf zwei Beinen wandelt die Künstlerin durch ein Waldstück bei München. (Foto: Judith Egger/oh)

Der zweite Raum ist Schauplatz von Judith Eggers sachten Lauschangriffen. Im Film "Transmission Waves" sitzt sie bis zur Hüfte in der Meeresbrandung. Wie Tentakel oder Fühler einer Küchenschabe wachsen Angelruten aus ihrem Rumpf, an den Haken sind kleine Styroporbälle befestigt, in denen Unterwassermikrofone stecken. Die Geräusche des Meeres werden in den Ausstellungsraum übertragen und mischen sich mit dem Klickern und Rauschen eines anderen Experiments: In "Transmission Wood" sieht man Egger durch ein nächtliches, menschenleeres Paris laufen. Sie hat sich lange Äste und Zweige an den Körper geschnallt, an denen kleine Antennen befestigt sind. Eggers Versuch, mit den Bäumen von Paris, den letzten verbliebenen Boten der Wildnis, zu kommunizieren. Ein wunderbar poetisches Geschehen, das nicht jeder verstehen muss. Auf der Drehgenehmigung, die sich die Künstlerin für ihr Video bei der zuständigen Kommandantur besorgen musste, wird sie als "Comedienne" beschrieben, die sich als Baum verkleidet hat.

Judith Egger, "Lauschen und Lauern", Maximiliansforum, Unterführung Maximilianstraße/Altstadtring, bis 23. Februar, 24 Stunden einsehbar. 19. Februar, 19 Uhr, Soundperformance von Tania Rubio und Judith Egger.

© SZ vom 07.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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