Roman von Joachim Schnerf:Sarah lebt nicht mehr

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Ein wenig fliegen: Mit seinem zweiten Buch, "Wir waren eine gute Erfindung", hat der 1987 geborene französische Autor Joachim Schnerf einen der traurigsten, zärtlichsten und witzigsten Romane des Jahres geschrieben.

Von Frauke Meyer-Gosau

Die Alte Synagoge in Straßburg im Jahr 1940. (Foto: Alamy/mauritius)

Das Pessachfest beginnt mit dem Sederabend. Er ist "die Nacht der Überlieferung an die Jüngsten, die Nacht der Fragen. Die Nacht, in der man die Trauer entdeckt", wie es in Joachim Schnerfs Roman "Wir waren eine wunderbare Erfindung" heißt. In einer genau vorgegebenen Abfolge von Speisen, von rituellen Fragen, Antworten und Handlungen wird der Geschichte des jüdischen Volkes im ägyptischen Exil und ihres Auszugs aus Ägypten gedacht.

Der alte, herzkranke Salomon allerdings muss noch rasch einen seiner gefürchteten KZ-Witze auf die deutschtürkische Austauschschülerin Leyla abschießen, die auf Einladung seiner Enkelin Tania am Familienfest teilnimmt ("Kennst du den Unterschied zwischen einem Wachturm und einem Minarett?") - "dann kam das heilige Raunen über uns, ohne dass wir uns absprechen mussten, und endlich konnte das Unglück der Hebräer beginnen". Allerdings, was die Geschichten dieses Buches anlangt, nicht nur ihres. Und doch ist dieser Roman des 1987 in Straßburg geborenen Autors eines der schönsten Bücher des Jahres, eines der traurigsten nämlich, der zärtlichsten und zugleich witzigsten: Salomon erinnert sich in kleinen Szenen an das Leben seiner Familie wie auch in Bruchstücken an sein eigenes. Er führt sich noch einmal die Feier des vergangenen Jahres vor Augen, all die Entgleisungen, die er selbst verursacht hat, die Wortwechsel seiner beiden so ungleichen Töchter Denise und Michelle, die betretenen oder fantasievollen Reaktionen ihrer Ehemänner, die Protestbekundungen und das teils entsetzte Schweigen seiner 15-jährigen Enkelin Tania und ihres drei Jahre jüngeren Bruders Samuel - und in und über all dem das heilsame Walten von Sarah, seiner Ehefrau. Vor zwei Monaten ist sie am Krebs gestorben, und Salomon weiß nicht, wie er den Sederabend ohne sie überstehen soll.

Das wird er wohl nicht, man beginnt es bald zu ahnen, während er auf seine Tochter Michelle wartet, die in diesem Jahr nun für das traditionelle Essen zuständig sein wird. Bis sie kommt, gehen Salomon nicht nur frühere Feste wie seine Hochzeit vor fünfzig Jahren durch den Kopf, Sarahs entschiedenes Engagement für den dabei aufwartenden Koch Monsieur David, der zwar grauslich kochte, dafür aber andere, die Aufgebrachten begütigende Qualitäten hatte, und auf dessen Menübesprechungen und Kostenvoranschläge sich Sarah vorbereitete, "wie eine Sportlerin auf den Wettkampf, am Tag vor dem Termin aßen wir abends nur Kohlenhydrate".

Joachim Schnerf wurde 1987 in Straßburg geboren und lebt heute als Lektor für internationale Literatur in Paris. (Foto: Normand/Opale/Leemage/laif)

Um Sarah kreisen Salomons Erinnerungen unvermeidlich immer wieder, um ihre Klugheit und integrierende Kraft, um ihre Schönheit, ihre Wärme und Güte. Selbst als er die noch kleinen Töchter dazu gebracht hatte, ihre beiden Goldfische Goebbels und Göring zu nennen, als Denise nach dem Tod von Goebbels voller Trauer in ihrem Aufgabenheft die Buchstabenfolge "G-u-e-b-e-l-s" mit zahlreichen Herzchen umkränzte und die Eltern zur Klassenlehrerin gerufen wurden: "Sie verzieh mir, jedes Mal. Nie grollte sie mir länger als ein paar Stunden, meine gedächtnislose Heilige" - nicht zuletzt ist dieses Buch eben auch ein Liebesroman. Neben der großen Liebe aber rückt er nicht nur die einzelnen Familienmitglieder nach und nach ins Licht. Er fördert auch Salomons eigene Geschichte zu Tage.

Seine Eltern sind während der Deportation umgekommen, er selbst wurde als Junge in Auschwitz von einer rettenden Hand von der Ladefläche des Lastwagens gestoßen, mit dem man die Häftlinge zum Arbeitseinsatz transportierte; KZ-Witze sind seine einzige Möglichkeit, über den Holocaust zu sprechen. Sonntagnachmittags steigt er in sein "Shoah-Café" unten im Haus hinunter, wo "unter befreundeten Überlebenden der Lagerkrieg tobt (...) und ich ungehindert lachen konnte".

Joachim Schnerf: Wir waren eine gute Erfindung. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis. Kunstmann-Verlag, München 2019. 142 Seiten, 18 Euro. (Foto: Kunstmann)

Seit seine Frau gestorben ist, spürt auch Salomon sein Herz schwächer werden

Und natürlich erkennt er im Bild des jungen blonden Deutschen in der schwarzen Lederjacke, mit dem Enkelin Tania händchenhaltend durch Berlin gelaufen ist, sofort den SS-Mann: "Da fehlt doch nur noch der Totenkopf, um das Bild abzurunden. Der deutsch-französischen Versöhnung stehen große Zeiten bevor! (...) Wenn ich den Fritzen nur hätte sagen können, dass meine Enkelin eines Tages mit einem ihrer Nachfahren anbandeln würde, stellt euch nur vor! Rudolf Höß, für mich bitte keine Dusche, es gibt da ein Video von Tania, die mit einem feschen SS-Jungen Händchen hält!" Die Vergangenheit ist immer präsent, anders kann es nicht sein. Doch zwischen Schrecken und Liebe leben in dieser Familie am Seder-Abend noch alle erdenklichen anderen Gefühle auf, wenn Michelle ihre Wut wie üblich in unbändigen Schreianfällen entlädt, Denise ihre Angst vor dem Leben im Rotwein ertränkt, ihr Mann Patrick, wie immer, wenn es um sein Jüdisch-Sein geht, vor Nervosität auf die Toilette rennt oder Denises sephardischer Ehemann Pinhas, von Salomon "Araber" genannt, fabelhafte Geschichten für die Kinder erfindet: Zwischen "Geschrei, Tränen, Exkrementen", wie Salomon resümiert, nimmt das Fest seinen Lauf.

Was alle Beteiligten trotz ihrer turbulenten Exaltationen aber immer wieder zusammenführt, ist ihre unausgesprochene, tiefe Zuneigung zueinander - und ist also schließlich Sarah, deren Ausgangspunkt und Zentrum.

"Was unterscheidet diese Nacht von allen anderen Nächten?", lautet die rituelle Frage, in der am Sederabend alle anderen Fragen gipfeln. Für Salomon ist die Antwort einfach: Sarah lebt nicht mehr. Wie sollte er selbst da noch bleiben? Während er wahrnimmt, wie sein Herz schwächer wird, sieht er sich und Sarah als das Liebespaar, das sie nun sein werden, "endlich wieder aneinandergefügt. Und wir werden uns ein wenig vom Boden erheben. Werden ein wenig fliegen." So wie auch der Roman, der mit dieser Vorstellung endet, letztlich ein Flug ins Lebendige, ins gegen alle Wirklichkeits-Erfahrung auch Tröstende gewesen ist.

© SZ vom 09.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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