Europäische Zentralbank:Wie viel Inflation ist gut?

Die EZB möchte, dass die Preise steigen - und zwar am liebsten um "unter, aber nahe unter zwei Prozent". Das klappt aber seit Jahren nicht. Die EZB-Chefin will nun über eine neue Strategie diskutieren.

Von Markus Zydra, Frankfurt

Christine Lagarde, 63, ist in ihrer Karriere häufig neue Wege gegangen. Zunächst führte die Juristin eine große US-Kanzlei, dann folgte ihre Berufung zur französischen Finanzministerin, schließlich kam der Ruf an die Spitze des Internationalen Währungsfonds. Nun leitet Lagarde als erste Frau und erste Nicht-Ökonomin die Europäische Zentralbank. Dort plant die Novizin einen Coup: Sie möchte die Strategie der Notenbank modernisieren.

Dieser auf Monate angelegte Selbstfindungsprozess der Institution beginnt formal an diesem Donnerstag, wenn Christine Lagarde erstmals eine geldpolitische EZB-Ratssitzung leitet. Es geht um den künftigen Einfluss des Klimawandels auf die Geldpolitik und auch um bessere Kommunikation mit den Bürgern. Aber vor allem dreht sich die Debatte um den Kern der Notenbank, nämlich um ihr Mandat: Im EU-Vertrag steht, die Währungshüter sollen für stabile Preise sorgen. Klingt einfach. Doch die neu zu verhandelnde Frage ist: Was genau versteht man unter Preisstabilität?

Das Thema bewegt immer mehr Menschen, denn die EZB rechtfertigt ihre umstrittene lockere Geldpolitik mit ihrem Mandat, das sie im Jahr 2003 konkretisiert hat. Stabile Preise sind demnach definiert als eine Inflationsrate von "unter, aber nahe zwei Prozent". Dieses Ziel verfehlt die Notenbank seit Jahren. Die mächtige Institution empfindet dieses Versagen als peinlich, doch muss das die Öffentlichkeit kümmern?

Derzeit liegt die Inflationsrate in der Währungsunion bei ein Prozent. Damit können viele Bürger gut leben. Deshalb steht Lagarde vor einem veritablen Kommunikationsproblem. Wie sollen die Währungshüter nachvollziehbar rechtfertigen, dass sie inzwischen für Inflation kämpfen - und schon lange nicht mehr dagegen? Das begreift kaum jemand mehr. Läge das Inflationsziel bei einem Prozent, würde die Notenbank ihre Nullzinspolitik längst beendet haben. Deutsche Sparer wären froh.

European Central Bank President Christine Lagarde Adds Signature to Euro Banknotes

Christine Lagarde will etwas umsteuern. Eine Abkehr von der Nullzinspolitik ist aber nicht in Sicht.

(Foto: Peter Jülich/Bloomberg)

Nicht nur die EZB, auch andere Notenbanken verzweifeln angesichts der weltweit sinkenden Inflationsraten. Früher, vor 20, 30 Jahren, traten die Währungshüter an, um die Preissteigerungen zu dämpfen. Damals waren acht Prozent Teuerung pro Jahr keine Seltenheit. Den Preisdruck auf zwei Prozent einzuhegen, schien eine gute Idee zu sein. Neuseelands Zentralbank machte 1989 den Anfang, die allermeisten Notenbanken folgten diesem Beispiel. Doch seit der Finanzkrise geschehen Dinge, die kaum jemand erwartet hätte.

Notenbanker starteten ab 2008 die bis heute lockerste Geldpolitik. Laut Lehrbuch hätten die Preise im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs deutlich steigen müssen. Doch sie taten es nicht. Wirtschaftswissenschaftler rätseln, woran es liegt. Die Zunft diskutiert deshalb auch darüber, ob das althergebrachte Inflationsziel von zwei Prozent noch zeitgemäß ist. Der Nobelpreisträger Paul Krugman forderte schon einmal vier Prozent als Ziel. Der Amerikaner hält Inflation für die Lösung der globalen Schulden- und Wachstumskrise. Andere Ökonomen würden ein oder gar null Prozent für angemessen halten. Die globale Wirtschaft erzeuge grundsätzlich weniger Teuerung, weil die Löhne der Belegschaften kaum stiegen und technologischer Fortschritt die Preise senke.

Die EZB könnte also umsteuern, und das sofort. Und es gäbe gute Gründe. "Inzwischen liegt das Wachstumspotenzial im Euro-Raum nur noch bei rund 1,25 Prozent. Damit könnte sich die EZB auch ein neues Inflationsziel von 1,5 Prozent geben", sagt Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ-Bank. Doch der Experte weiß: Die Notenbank werde sich nicht schnell von dem Zwei-Prozent-Ziel lösen können, ohne an Glaubwürdigkeit zu verlieren. "Zudem scheint es der Wunsch der EZB zu sein, die Zinsen nicht schnell anheben zu müssen", so Bielmeier.

Die Notenbank ist gefangen. Sie tut sich schwer, den Kurs stark zu ändern, weil das als Eingeständnis verstanden werden könnte, man sei viel zu lange dem falschen Weg gefolgt. Der Beweglichkeit einer Institution, die davon zehrt, dass man ihrer Expertise vertraut, ist offenbar beschränkt. Außerdem gehen im EZB-Rat die Meinungen zum Inflationsziel zum Teil deutlich auseinander. Doch Lagarde möchte das Gremium versöhnen, nachdem ihr Vorgänger Mario Draghi viele Notenbanker gegen sich aufgebracht hat. Ein solcher Konsens lässt sich wohl nur mit einer kosmetischen Korrektur des Ziels bewerkstelligen.

"Vermutlich wird die EZB die Unschärfe 'unter aber nahe' rausnehmen und das Inflationsziel auf zwei Prozent festlegen. Dann weiß jeder Bescheid", vermutet Dirk Schumacher, Chefvolkswirt der französischen Bank Natixis. Ein Ende der lockeren Geldpolitik in der Euro-Zone werde es auf lange Sicht auch dann nicht geben, wenn die EZB das Inflationsziel wider Erwarten auf ein Prozent absenken würde. "Selbst diese niedrige Inflationsrate kann die Notenbank nur erreichen, wenn sie die lockere Geldpolitik fortsetzt."

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