Jazzkolumne: Bilanz 2019:Die zehn besten Alben

JD Allen muss rein, John Coltranes "Blue World"- Archiventdeckung und die irre Jazzrockfusion von Chris Potter. Die Auswahl ist natürlich rein subjektiv, aber was man objektiv sagen kann: Es war ein großartiges Jazzjahr.

Von Andrian Kreye

Im Jazz war das Jahr 2019 viel zu turbulent für rote Fäden. Die Post-Club/Hip-Hop-Szene brachte neue Energieschübe aus London (Yazz Ahmed, Theon Cross), Los Angeles (Jamael Dean, Flying Lotus) und Deutschland (das neue Label Kryptox, die Jazzrausch Big Band). Es gab Belege für die Zeitlosigkeit des Jazz (50 Jahre ECM) und für seine Repolitisierung (Matana Roberts, Terri Lynne Carrington). Die Flut der Wiederveröffentlichungen brachte Meisterwerke des Deep Jazz in Umlauf (Charles Brackeen, Horace Tapscott, The Tribe). Weil es aber vor allem ein grandioses Jazz-Jahr war, zum Jahresende eine objektive Betrachtung der subjektiven Wahrnehmung. Welche zehn Platten blieben im Stapel vor dem Regal und in den Algorithmen der Streamingdienste hängen? In alphabetischer Reihenfolge:

JD Allen "Barracoon" (Savant). Ende der Generationenkonflikte - für den 46-jährigen Tenorsaxofonisten aus Detroit ist sein neues Trio mit zwei halb so alten Musikern ein neuer Aufbruch. Und weil das Album von Zora Neale Hurstons Buch von 1927 inspiriert ist, bekommt die aggressive Kraftstrotzerei auch noch politischen Kontext.

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Jon Batiste, "Anatomy of Angels"/ "Chronology of a Dream" (Verve). In Amerika ist der Pianist als musikalischer Direktor der Late-Night-Show von Stephen Colbert allgegenwärtig. Deswegen erinnert er mit zwei live eingespielten Alben daran, dass er ein phänomenaler Jazzpianist ist, mit einem Gespür für Groove und Soul aus den Second Lines seiner Heimatstadt New Orleans und dem Geschick, Gassenhauer so modernistisch zu zerlegen wie einst sein Vorbild Thelonious Monk.

Tina Brooks, "Minor Move" (Blue Note Tone Poet Series). Schlaues Manöver, in der Flut liebloser Wiederveröffentlichungen eine Archivserie mit höchstem Qualitätsanspruch zu positionieren. Und dabei so grandiose Hard-Bop-Alben vor dem Vergessen zu retten.

Peter Brötzmann / Heather Leigh "South Moon Under - the Red Hook Concert" (HL/BR). Freie Improvisation auf Tenorsaxofon und Pedal-Steel-Gitarre? Funktioniert ganz ausgezeichnet.

Don Cherry, "Brown Rice" (Reissue auf Verve). So viele Türen der Wahrnehmung wie der Trompeter und Ornette-Coleman-Weggefährte Don Cherry haben wenige aufgestoßen. Weltmusik, Funk und Free Jazz so schlüssig auf den Punkt gebracht auch nicht.

John Coltrane, "Blue World" (Impulse). Ein Coltrane-Soundtrack für einen Nouvelle-Vague-Film. Mehr muss man gar nicht sagen. Auch wenn das erstmals veröffentlichte Album dem Gesamtwerk nur Nuancen hinzufügt.

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Theo Croker, "Star People Nation" (Sony). Post-Hip-Hop-Jazz von einem der einfallsreichsten Musiker und lässigsten Trompeten-Virtuosen unserer Zeit. Live unfassbar.

Abdullah Ibrahim, "The Balance" (Gearbox). Berührend schönes Alterswerk des südafrikanischen Pianisten mit seiner Gruppe Ekaya. Wärme und Rafinesse auf so einen gemeinsamen Nenner zu bringen, gelingt nur wenigen.

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Nérija, "Blume" (Domino). Die Tenorsaxofonistin Nubya Garcia hat sich in den letzten zwei Jahren eine Schlüsselstellung in der Londoner Szene erarbeitet. Zusammen mit der Trompeterin Sheila Maurice-Grey, der Posaunistin Rosie Turton und der Altsaxofonistin Cassie Kinoshi hat sie nun das Septett Nérija gegründet, das es schafft, das Londoner Vokabular aus Modal Jazz, Club Music und Afro auch im Studio so überzeugend und kraftvoll zu spielen, dass man mehr als nur eine Ahnung davon bekommt, was sich in der Stadt seit einigen Jahren abspielt.

Chris Potter, "Circuits" (Edition). Jazzrockfusion? Echt? Dem Saxofon-Titan Chris Potter würde man natürlich auch beim Tonleiterüben zuhören, deswegen ist er der ideale Mann, um die elektrifizierten Parforceritte durch Rhythmus- und Harmoniewechsel zu rehabilitieren, die vor vielen Jahren mal mit daran schuld waren, dass der Jazz einen schlechten Ruf und der Punk eine gehörige Portion Trotzreaktion bekamen. Aber vielleicht wäre das ein roter Faden für 2019: Schluss mit dem Stilfundamentalismus.

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