Popkolumne:Wo geht's hin im Schlaf

Eine kleine Bilanz des Popjahres samt einer natürlich definitiven Playlist - und die Antwort auf die Frage, wie die besseren "Rolling Stones" heißen.

Von Jens-Christian Rabe

Das Jahr geht zu Ende, "Last Christmas" von Wham! und Mariah Careys "All I Want For Christmas Is You" stehen wieder in den deutschen Single-Top-Ten, nennenswerte neue Musik gibt es erst mal nicht mehr. Nur das größenwahnsinnige Popgenie Kanye West, jüngst wiedergeboren als größenwahnsinniges Popgenie Gottes, hat noch Großes angekündigt. Ein neues Werk soll Weihnachten erscheinen und - genau - "Jesus Is Born" heißen. Na ja. Mal sehen. Wenn es nicht erscheint, wäre wenigstens bewiesen, dass nicht alle Popgenies schlagartig weniger lustig werden, wenn sie der heilige Geist erwischt. Wobei man nach allem, was West das Jahr über so salbaderte, befürchten muss, dass er gerade leider alles sehr ernst meint.

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Vergnüglicher ist vorerst ein Blick auf die Jahresbestenlisten, die gerade wieder allüberall herauskommen. War's ein gutes Popjahr? Unbedingt, wieder mal, auch wenn es das eine visionäre Avantgarde-Pop-Album zum Niederknien, wie 2018 etwa "Lamp Lit Prose" von den Dirty Projectors, eher nicht gab. Dafür gab es mit "When We All Fall Asleep, Where Do We Go?" von Billie Eilish einen größten anzunehmenden Pop-Glücksfall: ein originelles, extrem introvertiertes, hier und da sogar offen depressives Indie-Electro-Pop-Album, das zum Mainstream-Megaerfolg wurde. Allein die genial minimalistische Single "Bad Guy" wurde auf Youtube inzwischen fast 700 Millionen mal abgerufen. Und dann war da ja auch noch "Old Town Road", wo dem jungen Rapper und Sänger Montero Lamar Hill alias Lil Nas X mithilfe des Country-Stars - und Vaters von Popdiva Miley Cyrus - Billy Ray Cyrus das Kunststück gelang, Trap-Rap mit Country zu einem unwiderstehlichen Superhit zu versöhnen. Hat man beides gehört, hat man Wesentliches des Popjahrs 2019 gehört, und gar nicht so wenig über die Zeiten gelernt, in der wir gerade so leben. Außerdem gehören auf die Playlist des Jahres: Charli XCX & Christine And The Queens mit "Gone", Taylor Swift mit "You Need To Calm Down", Vampire Weekend mit "This Life", YBN Cordae feat. Chance The Rapper mit "Bad Idea", The Specials mit "Vote For Me", Rosaliá mit "A Palé", Deichkind mit "Wer sagt denn das?", Lizzo mit "Boys", YBN Cordae feat. Anderson Paak mit "RNP", King Princess mit "Prophet" und Bon Iver mit "Hey Ma".

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Originalität hat auch im Pop - daran sei aus gegebenem Anlass zum Ausklang dieses Popjahrzehnts vielleicht noch mal erinnert - viel mehr mit Schwarmintelligenz zu tun, also damit, was in der Luft liegt, als die Macher das hinterher zugeben, wenn der Erfolg erst einmal da ist. Es gibt dementsprechend die Theorie, dass hinter jeder erfolgreichen Band eine Band steht, die genauso gut war und klang, nur einfach nicht weltberühmt wurde. Der Gegenbeweis ist natürlich schwer zu erbringen. Wollte man die Theorie allerdings ausarbeiten, dann wäre die Rockband Flamin' Groovies aus San Francisco, deren Gründer und Sänger Roy Loney am vergangenen Freitag in San Francisco gestorben ist, ein gutes Beispiel. Sie sind die Rolling Stones, die nicht weltberühmt wurden. Wobei das auch den Rolling Stones nicht entging. Das im März 1971 veröffentlichte vierte Flamin'-Groovies-Album "Teenage Head" bezeichnete Mick Jagger einmal als das bessere "Sticky Fingers" - wobei "Sticky Fingers", das einen Monat später erschien, immerhin als eine der besten Stones-Platten gilt und den Überhit "Brown Sugar" enthält. Das sagt sich natürlich leicht vom Superstar und wirkt auch etwas gönnerhaft. Es bloß so zu verstehen, bedeutete in diesem Fall allerdings nicht nur, Jagger als Musiknerd schwer zu unterschätzen, sondern auch die Flamin Groovies und besonders "Teenage Head". Es ist nämlich unüberhörbar ein wirklich großes, virtuos verrumpeltes Bluesrock'n'Roll-Album, dreist verpoppt und doch unüberhörbar traditionsversessen. John Lee Hooker, Chuck Berry und Muddy Waters sollten sich nicht schämen müssen für ihre weißen Kinder. Und, ist es wirklich besser als "Sticky Fingers"? Abgesehen davon, dass kein "Brown Sugar" darauf ist, ist es auf jeden Fall kein bisschen schlechter. Kein bisschen. Vieles klingt sogar im besten Sinne so verblüffend verwandt, dass man glaubt, die Stones hätten sich vor den "Sticky Fingers"-Sessions von "Teenage Head" inspirieren lassen (was nicht möglich ist, weil die "Sticky Fingers"-Aufnahmen schon Ende Oktober 1970 beendet waren). Anders gesagt: Für alle, die "Sticky Fingers" schon zu viel gehört haben und gerade zum ersten Mal von den Flamin' Groovies hören, dürfte "Teenage Head" eine große Freude sein, womöglich eine Offenbarung. Und dann darf es auch wieder gut sein mit der Retromania. Und das Popjahr 2020 kann kommen.

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