Theaterpremiere:Die heile Welt von John Wayne und Lex Barker

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Papas Liebling: Iphigenie, gespielt von Seyneb Saleh (rechts). (Foto: Katrin Ribbe)

Anne Lenk konfrontiert in Hannover "Iphigenie in Aulis" mit "Iphigenie auf Tauris".

Von Till Briegleb

Manche alten Geschichten sind in der Gegenwartsbetrachtung so abstrus, dass es gute Gründe braucht, sie immer wieder neu zu erzählen. So ein Stück ist Euripides' "Iphigenie in Aulis" in seinen Kernbotschaften. Dass ein junges Mädchen als Menschenopfer sterben soll, damit ihr Vater und seine Kumpel Windenergie für ihre Flotte und den Rachefeldzug gen Troja geschickt bekommen, ist heute bekanntlich weder rechtlich noch moralisch denkbar. Zumal in einer konsumfixierten Welt, wo Opferbringen (selbst vernünftige) und Opfersein durchweg negativ konnotiert sind. Aber dass ein lebensfrohes Kind, das mit der fiesen Lüge ins Kriegslager gelockt wurde, den größten Held der Armee heiraten zu dürfen, am Ende die Argumente ihres Vaters übernimmt und sich selbst euphorisch für das Kriegsglück schlachten lassen möchte, das ist vorstellbar vielleicht beim Islamischen Staat, aber nicht im mintgrünen Foyer eines Boutique-Hotels.

Dort aber spielt die Iphigenie-Inszenierung von Anne Lenk im Schauspielhaus Hannover (Bühne: Judith Oswald) im ersten Teil. In dieser Welt tragen breitbeinig sitzende Männer (Philippe Goos, Torben Kessler) Cowboystiefel, Westernhemden und Haarschnitte aus dem amerikanischen Saubermann-Kino der McCarthy-Ära, oder sie sehen strähnig und bleich aus (Sebastian Jakob Doppelbauer) wie in einem Retro-Western von Quentin Tarantino. Die Frauen dagegen sind von Kostümbildnerin Sibylle Wallum ausstaffiert mit Plüsch, Seide und Coctailkleidern in Rosa- und Grüntönen zu langen roten Haaren. Sie gehören ganz zum unterwürfigen und jammervollen Geschlecht der Betrogenen, die Gehorsam scheinbar für eine weibliche Tugend halten.

Beinahe wirkt das so, als fehle es der Regisseurin am Gewahrsein dafür, dass antiquierte Rollenbilder und Stereotypen sich wieder verfestigen, werden sie ständig wiederholt. Die kulleräuige Affektiertheit von Papas Liebling Iphigenie (Seyneb Saleh) oder die biedere Hausfrauenart ihrer Mutter Klytämnestra (Miriam Maertens) erzeugen mit den stilisierten John-Wayne- und Lex-Barker-Attitüden der gewaltfreudigen Herrenhelden eine heile Welt des Saloon-Patriarchats. Die klingt höchstens dadurch nicht ganz richtig, dass die Menschen die Kunstsprache von Schillers Übersetzung des Euripides sprechen.

Doch dann kommt Rettung durch Goethe und Sabine Orléans. Statt gekünstelter TV-Nostalgie in Dichterdeutsch wird im zweiten Teil des Abends zwischen selbstbewussten Menschen offen ausverhandelt, warum Güte und Nachsicht die einzig erfolgversprechenden Rezepte gegen den Fluch der Gewalteskalation sind. "Iphigenie auf Tauris", Goethes Neudichtung von Euripides zweitem Iphigenie-Drama, liefert eine Lösung, aus der antiken Tragikspirale des schicksalhaften Rachemords im Gespräch zu finden - und zwar im Gespräch zwischen Mann und Frau auf Augenhöhe.

Dafür ist die gerade und schnörkellose Ehrlichkeit im Spiel von Sabine Orléans genau der richtige Ton. Von Diana aus dem sedierenden Grün einer Design-Schlachtbank aus der Zeit der Röhrenfernseher in einer Wolke auf die Krim zu den Skythen gebeamt, wo König Thoas (wiederum Torben Kessler) allerlei lustige Pantomime aufführt, um die gottgesandte Priesterin zur Frau zu gewinnen, ist diese Iphigenie wirklich Handelnde statt Behandelte. Sie erwehrt sich mit guten Argumenten einer Heirat, obwohl sie gewarnt wird, den Mächtigen nicht zu reizen.

Sie wählt stets das aufrechte Sprechen gegenüber der Unterwürfigkeit und besteht darauf, dass nur Wahrheit Vertrauen schafft. Und sie hat in dem nachdenklichen Barbaren, der den persönlichen Verzicht als Option für eine allgemeine Gerechtigkeit anerkennt, einen besonnenen Partner, der eine starke Vision für unsere Zeit parat hat. Er lässt lieber die geliebte Frau und ihren psychotischen Bruder Orest nach Hause ziehen, als sein Ego im "gerechten Zorn" mit dem Blut der Unglücklichen zu betanken. Plötzlich erscheinen die heulenden und hilflosen Frauen des mintgrünen Auftakts, die zweckoptimierten Soldaten, deren ganze blöde Weisheit in dem Satz von Agamemnon kulminiert: "Ich weiß wo Mitleid gut ist, und wo nicht", nur noch als abschreckendes Vorspiel. Die zivilisierten Griechen mit der militärischen Logik und den wehrlosen Frauen sind die armseligen Version einer schicken Spezies, die aus ihren Fehlern nichts lernen will. Der zuhörende und aufmerksame Wilde im Schwarzen Meer dagegen zeigt die intelligente Empathie, die dem Verheeren der Welt durch den egoistischen Mann ein Ende setzt.

Wow, was für eine Wendung: Einen Ausweg im Dialog finden, im Gespräch, das Verständnis beweist, ruhig, gelassen, uneitel, zugeneigt. Das ist doch mal eine politische Botschaft ohne Schablonenlösung. Ein echtes Angebot, für neue Rollenverständnisse in Politik und Alltag, den Zuständen ehrlich und mit Selbstrücknahme zu begegnen. Von diesem Ergebnis aus betrachtet erscheint das Schaufenster der schicken Klischees vom Anfang auch nicht mehr abstrus, sondern wie die traurige Gegenwart einer konsumgläubigen Jugend, die ihre Zukunft opfert, weil sie sein will wie die Vätergeneration. Dafür gibt es leider keinen Planet B namens Tauris mehr. Auch nicht in mintgrün.

© SZ vom 18.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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