50 Jahre Gesamtschule:"Unterricht nach Plan geht hier nicht"

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An der Gesamtschule Gelsenkirchen gibt es insgesamt fünf Förderklassen, eine unterrichtet Christa Grunt. (Foto: Fabian Busch)

1969 startete in NRW ein bildungspolitisches Experiment: die Gesamtschule. Und heute? Ein Besuch auf dem Berger Feld, wo einst Manuel Neuer und Mesut Özil lernten.

Von Fabian Busch

Am Anfang war Improvisation gefragt. Als die Gesamtschule Gelsenkirchen im Schuljahr 1969/70 den Betrieb aufnahm, verteilten sich die Klassen auf vier Standorte. Das Mittagessen für die Fünftklässler kam mit dem Lkw, "Bratwurst, Blumenkohl und Kartoffeln", notierte die Lokalzeitung - der Ganztagsbetrieb war für die Stadt ein Novum. Das Interesse der Eltern war von Beginn an groß: 1969 kamen auf 450 Plätze 1000 Anmeldewünsche. Kein Wunder, dass der Schulversuch bald riesige Ausmaße annahm: In den 70er-Jahren lernten fast 2200 Schüler am neuen Standort auf dem Berger Feld.

Die Einrichtung war eine von sieben Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen, die 1969 ihre Tore öffneten. Der Start im größten Bundesland trieb die Entwicklung der Schulform maßgeblich voran. Doch die Gesamtschule war umstritten und blieb es. Für die Befürworter bedeutete die Überwindung der Dreiteilung im Bildungssystem mehr Chancengleichheit. Für ihre Gegner war es Gleichmacherei.

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An der Gesamtschule Berger Feld lernen heute knapp 1400 Kinder und Jugendliche. Das Gelände im Stadtteil Erle ist großzügig, die Wege manchmal lang. Schulleiterin Maike Selter-Beer wirft einen Mantel über, bevor sie zu ihrer neuen "Außenstelle" führt. Nur wenige Jahre sind die kleinen Häuser alt, in denen zunächst Asylbewerber untergebracht waren. Jetzt lernen dort die Schüler der fünf "Internationalen Förderklassen". In einem modernen Klassenraum stehen rote Holzklötze auf einem Tisch, daraus sollen Figuren für den Weihnachtsbasar werden. Ihre 15 Schüler müssen zunächst Deutsch lernen, sie sind zwischen elf und 13 Jahren alt und ein "buntgemischter Haufen", sagt Lehrerin Christa Grunt. "Unterricht nach Plan geht hier nicht. Wenn ich merke, dass die Uhrzeiten noch nicht sitzen, dann üben wir die." "Schule gut", meint Miroslav und hebt den Daumen: Man brauche sie, wenn man später Auto fahren will.

Vor allem Kinder aus Flüchtlingsfamilien besuchen die Förderklassen. Dass sie etwas abseits untergebracht sind, ist nicht ideal, findet die Rektorin - doch der Platz im Haupthaus ist knapp. Die Schule hat diese Klassen zugewiesen bekommen, aber Selter-Beer ist keine Schulleiterin, die sich über so etwas beschweren würde. Schließlich passen auch diese Kinder zum Anspruch der Gesamtschule, ein Spiegelbild der Bevölkerung zu sein. Selter-Beer findet: "Warum soll man in der Schule trennen, was man dann in der Gesellschaft wieder zusammenführen muss?"

Die Syrerin Maya würde gerne Modedesign studieren

Im Haupthaus hat die Rektorin ein paar Schüler in den Besprechungsraum gerufen. Unter ihnen sind Maya Omar und Eshan Vahed, beide 16, beide kamen 2015 nach Deutschland und haben zunächst eine Förderklasse an einer anderen Schule besucht. Dann kamen sie hierher. "Am Anfang war es schwierig", erzählt der Iraner Eshan. "Die Atmosphäre war anders, es gab viel mehr Schüler als an der anderen Schule." Wenn sie eine gymnasiale Oberstufe bilden wollen, brauchen Gesamtschulen eine gewisse Größe. Doch die kann auch belastend sein. Deswegen sind die sechs- bis siebenzügigen Jahrgänge am Berger Feld auf unterschiedliche Trakte verteilt. "Man muss sich in so einem Gebäude auch zurückziehen können", findet Selter-Beer.

Eshan jedenfalls ist angekommen. "Die Schule ist top", findet er. In zwei Jahren will er das Fachabitur machen. Die Syrerin Maya würde gerne Modedesign studieren. Allerdings weiß sie noch nicht, ob das klappt. Bisher hat sie die Prognose für einen Hauptschulabschluss. Dabei klingt ihr Deutsch fast perfekt - und die 16-Jährige kann sich kaum vorstellen, nach Syrien zurückzukehren. "Hier habe ich das Wichtigste gelernt: eine neue Sprache - und ich weiß, was ich später werden will."

Früher lernten hier Alexandra Popp, Manuel Neuer oder Leroy Sané, heute träumen Philip Breilmann (links) und Luca Bernoth vom ganz großen Durchbruch. (Foto: Fabian Busch)

Die Integration von Schülern mit ausländischen Wurzeln hat hier Tradition, eine neue Herausforderung kam 2007 hinzu: Als erste Schule der Stadt bildete man Klassen für den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung. Inzwischen gibt es davon eine pro Jahrgang. In der Klasse von Sonderschullehrerin Rosemarie Pirecioglu haben sechs von 25 Kindern besonderen Förderbedarf: eine geistige Beeinträchtigung, größere Lernschwächen oder auffälliges Sozialverhalten. "Am Anfang war es viel Arbeit, Respekt und Toleranz herzustellen", erzählt sie. Doch es sei gelungen. Seine Klasse sei ruhiger als die Parallelklassen, findet Zehntklässler Luca Keim. Und von Frau Pirecioglu als zweiter Lehrkraft in der Klasse profitiere er ebenso - auch wenn er selbst keinen besonderen Förderbedarf hat. "Ohne sie hätte ich bestimmt schlechtere Noten."

Die Gesamtschule Berger Feld hat nicht nur für ihre Integrationsbemühungen Preise bekommen, sie trägt auch den Titel "DFB-Eliteschule des Fußballs". Die Arena von Schalke 04 liegt buchstäblich nebenan, mit dem Bundesliga-Verein verbindet die Schule ein Kooperationsvertrag. Im Flur sind Fotos der Profis aufgereiht, die hier als Jugendliche gelernt haben: Alexandra Popp, Manuel Neuer, Mesut Özil, Julian Draxler, Leroy Sané. Jung-Fußballer können vormittags Trainingseinheiten einlegen und verpassten Stoff am Nachmittag nachholen. Doch sie sollen Teil der Schulgemeinschaft bleiben, auch da ist manchmal Integrationsarbeit gefragt. "Wenn jemand meint, mit Rasierklingen unterm Arm rumlaufen zu müssen, kriegt er es mit mir zu tun", sagt Thomas Kaiser und lacht.

Kann eine Schule wirklich jedem gerecht werden?

Der 58-Jährige ist kein Lehrer, sondern Sportmentor an der Schule. Er hilft den Fußballern, ihren Zwölf-Stunden-Tag zu bewältigen, weist sie aber auch mit sanftem Druck auf die "Nachspielzeit" hin: Was, wenn die Karriere vorbei ist? Was, wenn es gar keine Karriere gibt? "Es gehört auch Glück dazu, man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein", weiß Luca Bernoth. Er besucht die 13. Klasse und spielt in der Regionalliga. Thomas Kaiser hat ihm geholfen, ein Stipendium zu bekommen: Nach dem Abi wird er an einem College in den USA studieren und dort Fußball spielen. So eine Chance könne auch eine Gesamtschule verschaffen, nicht nur ein Gymnasium, sagt Kaiser.

Sonderpädagogische Bildungsgänge, Hauptschulabschluss, Mittlere Reife, Abitur - an der Gesamtschule soll jeder den Abschluss machen, der zu ihm passt. Um unterschiedlichen Lerngeschwindigkeiten zu begegnen, unterrichten die Lehrer am Berger Feld Englisch ab Klasse 7 in nach Leistung getrennten Kursen, in Mathe ist das ab Klasse 8, in Deutsch und Chemie ab Klasse 9 der Fall. In den anderen Fächern bleibt die Klassengemeinschaft zusammen. Das Versprechen, Kinder mit weniger guten Startbedingungen zu höheren Abschlüssen zu führen, löst die Schule vielfach ein: Etwa 30 Prozent der Zehntklässler schaffen den Sprung in die gymnasiale Oberstufe. Eine genaue Statistik dazu führe man nicht, sagt die Rektorin. Doch darunter sei auch eine große Anzahl von Jugendlichen, die mit einer Hauptschulempfehlung an die Schule gekommen waren.

Trotzdem haben Gesamtschulen das gegliederte System in vielen Bundesländern eher ergänzt als ersetzt. "Sie haben das Problem, dass Eltern von sehr leistungsstarken Kindern ihren Nachwuchs dort häufig nicht hinschicken", sagt Olaf Köller, Professor am Leibniz-Institut für die Pädagogik der Mathematik und Naturwissenschaften in Kiel. Ende der 90er-Jahre hatten Bildungsstudien ergeben, dass Gesamtschüler bei ihren Schulleistungen im Vergleich zum gegliederten System schlechter abschneiden, auch die jüngste Pisa-Studie.

Das Interesse von Eltern ist trotzdem vielerorts groß. Auch Aylin Yilmaz bekam erst nach einigen Anläufen einen Platz an der Gesamtschule Berger Feld. Inzwischen ist die Zwölftklässlerin Schülersprecherin, nach dem Abitur würde sie gerne Medizin studieren. "Alle werden hier gefördert, niemand wird ausgeschlossen", sagt sie selbstbewusst. Kann eine Schule also wirklich jedem gerecht werden? Der zukünftige Abiturient und Fußballer Philip Breilmann findet: "Wir sind das beste Beispiel dafür."

© SZ vom 23.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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