Krimi:Verlorene Töchter, verwischte Gesichter

Wenn sich die Raststätte als Eingangstor zur Hölle entpuppt: Joseph Incardonas Kriminalroman "Asphaltdschungel" entdeckt die Unterwelt der Autobahn.

Von Stefan Fischer

Vom Zentrum an die Ränder ziehen die Fliehkräfte des Sommers die Menschen, von den Städten an die Strände des Mittelmeers und des Atlantiks. Die Autobahnen im Südwesten Frankreichs sind bloß Mittel zum Zweck auf dem Weg vom Alltag in die Ferien - ein zäher Weg, es gibt Staus und Stress: Niemand möchte mehr Zeit als nötig auf der Piste und an den Raststätten verbringen. Immer dauert es zu lange, ehe man am Ziel ist.

Mancher träumt dabei auch vom Verschwinden - aus dem Trott, dem bisherigen Leben. Was wäre, wenn es in zwei oder drei Wochen nicht auf derselben Strecke wieder zurückginge, sondern etwas Neues begänne, an einem neuen Ort, mit einem neuen Menschen? Der Urlaub als Verheißung eines alternatives Lebens.

Noch sind das vage Gedanken für Sylvie und Marc Mercier. Noch sind sie eine Familie, die zu verhindern versucht, dass sie auseinander bricht. Die Ferien als letzte Chance, die Fahrt ein gegenseitiges Anschweigen. Auf dem Rastplatz endlich ein Gespräch der Eltern, um die Fronten zu klären. Marie, die zwölfjährige Tochter, will nicht dabei sein. Sie hat sich innerlich schon verabschiedet von der Familie, sieht kommen, "dass das beschissene Ferien werden". Sie geht hinaus auf den Parkplatz - und taucht nicht mehr auf.

Der Schweizer Schriftsteller Joseph Incardona, 1969 in Lausanne geboren, schickt gleich zwei Reste dessen, was einmal Familien waren, in seinen "Asphaltdschungel" im Südwesten Frankreichs. Marie ist nicht das erste Mädchen, das hier in der Gegend entlang der Autobahn verschwunden ist. Auch Lucie ist weg sowie ein weiteres Mädchen. Lucies Vater, Pierre Castan, ist daraufhin in sein Auto gezogen, fährt die Gegend ab, seit Monaten sucht er die Tochter. Seine Frau vegetiert daheim mehr, als dass sie lebt. Pierres Versprechen, dass er die Tochter findet oder zumindest den Kerl, der sie entführt hat, ist ihre letzte lose Verbindung in diese sommerliche Realität.

Doch wo sucht man, wenn alles in Bewegung ist, an Orten, die im Grunde keine sind? Wenn alle nur auf der Durchreise scheinen. "Jedes Jahr sieht er hunderte, tausende, hunderttausende Gesichter", heißt es über Pascal Folier, der an der Selbstbedienungstheke an einer Raststätte arbeitet, die jeder anderen gleicht. "Nur ihn sieht niemand." Wie das richtige Gesicht herausfischen?

Auf mehr als einen Glückstreffer, jenseits aller Wahrscheinlichkeit, wagen sie nicht zu hoffen, Julie Martinez, Capitaine der Gendarmerie, und ihr Untergebener, Lieutenant Thierry Gaspard. Das Mädchen, Marie, kann in jedem Auto sein. Sofern sie sich noch innerhalb des Autobahnsystems befindet. Andernfalls kommt jeder Wald, jedes Dorf, jedes Feld und jeder Weiher in Betracht. Vollsperrung der Autobahn, Helikopter mit Wärmebildkameras, Hundestaffeln, die Polizei hat einen Plan für solch einen Fall. Er läuft ab wie am Schnürchen. Und führt: zu nichts.

"Asphaltdschungel" ist ein Noir-Krimi, obschon er im gleißenden Sommerlicht spielt. Joseph Incardona hat ihn in einer Welt angesiedelt, von deren Existenz die meisten Menschen wenig oder gar keine Ahnung haben, weil sie glauben, dass zwischen dem Daheim und dem Meer alle Durchreisende sind. Doch es gibt auch so etwas wie Bewohner der Autobahnen, die Betreiber der Raststätten und ihre schlecht bezahlten Angestellten, die Fernfahrer, die Prostituierten auf dem Straßenstrich, Roma aus einer Siedlung, die im Niemandsland zwischen der Autobahn und der ländlichen Behaglichkeit liegt. Und für die gewöhnliche Zivilisation Verlorene wie Pierre Castan, der seine Tochter sucht.

In diesem Milieu gibt es Menschen, die sich einzelne Gesichter merken, auch wenn sie in tausende blicken. Sie sehen Zusammenhänge, der Asphalt ist für sie nicht pure Oberfläche, die Autobahn nicht exterritoriales Gebiet. Nur will von ihnen niemand mit der Polizei zu schaffen haben. Jeder verfolgt seine Agenda. Lange Zeit hilft das dem Täter.

Mit großem erzählerischem Geschick lässt Incardona die Mehrheitsgesellschaft an dieser Parallelwelt vorbeirasen. Seine knappe Sprache und die vielen Szenenwechsel erwecken vor allem zu Beginn des Romans eher Ahnungen als Gewissheiten, vergleichbar den Eindrücken, die ein Blick aus dem Fenster bei hoher Geschwindigkeit einfängt. Am Ende ist jede Vollbremsung vergeblich.

Joseph Incardona: Asphaltdschungel. Aus dem Französischen von Lydia Dimitrow. Lenos Verlag, Basel 2019. 340 Seiten, 22 Euro.

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