Nachruf:Abschied vom Joker

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Borussia Mönchengladbach trauert um den erfolgreichen Bundesliga-Stürmer Hans-Jörg Criens, der mit 59 Jahren einem Herzinfarkt erlag.

Von Philipp Selldorf

"Das ist ein Skandal!", rief der Kommentator Heribert Faßbender mit ehrlicher Entrüstung in sein Mikrofon. Erstmals übertrug die ARD ein Pokalspiel jenseits des Finales live und in voller Länge, und nun stand dieses Spiel kurz vor dem Abbruch, weil von den Rängen außer Leuchtraketen auch eine Tränengasbombe geflogen kam und ihren giftigen Nebel verbreitete. Eines der Opfer war der Mönchengladbacher Spieler Uli Sude, ihm tränten fortwährend die Augen, was insofern von besonderem Nachteil war, da Sude die Rolle des Torwarts bekleiden musste. Dass er gegen Ende der Partie den Ball nur noch als "eine Art Punkt in der Luft" wahrnahm, hatte aber nichts mit dem Tränengas zu tun. Das war die Folge einer Gehirnerschütterung, die er beim Zusammenprall mit einem Mitspieler erlitt.

Wäre diese Pokalduell zwischen Borussia Mönchengladbach und Werder Bremen am Maifeiertag 1984 tatsächlich abgebrochen worden, hätte das zwar Uli Sude ein paar Kopfschmerzen erspart, es wäre aber auch sehr schade gewesen für Millionen von Zuschauern, die ein grandioses und extrem ereignisreiches Spiel erlebten, und besonders schade wäre es für Hans-Jörg Criens gewesen, der dieses Spiel dadurch entschied, dass er in der 95. Minute doch noch den 4:4-Ausgleich für die Borussen schoss und in der folgenden Verlängerung auch den 5:4-Siegtreffer zufügte. Zum Pokalsieg reichte es dennoch nicht: Im Finale verfehlte ein Borusse namens Lothar Matthäus im Elfmeterschießen gegen den FC Bayern das Ziel.

Criens, damals 23 Jahre alt und in der zweiten Saison Profi in Mönchengladbach, ist beim Treffen mit Werder Bremen sozusagen ein zweites Mal entdeckt worden. Der "Joker" habe das Spiel entschieden, sagte TV-Reporter Faßbender über den Einwechselspieler, eine Bemerkung mit doppelter Wirkung: Erstens kam das Wort Joker bis dahin nur im Kartenspiel und nicht beim Fußball vor. Zweitens hatte der Fernsehmann damit der Laufbahn des Angreifers Criens ein Motto gegeben. Außer als Torjäger - hinter Jupp Heynckes und Herbert Laumen ist er Gladbachs erfolgreichster Stürmer überhaupt - machte Criens auch als effizienter Einwechselspieler Karriere. Unter den 92 Treffern, die er für die Borussia in zwölf Profijahren zusammentrug, waren 14 Joker-Tore, was ihn lange zum erfolgreichsten Joker überhaupt machte. Inzwischen ist das der Freiburger Nils Petersen. Gegen das Image eines Spielers, der vornehmlich als Spezialkraft für die Schlussminuten taugt, wehrte sich Criens jedoch mit Recht. Als Stürmer lebte er von seiner Kopfballstärke, er war aber auch ein beachtlicher Fußballer, wenngleich er es nie in die Nationalmannschaft schaffte. Zum Ende der Karriere wechselte er als 32-Jähriger für 500 000 Mark Ablöse nach Nürnberg, wo er an der Seite von Männern wie Andreas Köpke, Manfred Schwabl und Alain Sutter prompt in die zweite Liga abstieg.

Nun ist Hans-Jörg Criens in Mönchengladbach am zweiten Weihnachtstag an einem Herzinfarkt gestorben. Er wurde nur 59 Jahre alt, sein Tod kam völlig überraschend, wie es bei der Borussia heißt. Criens zählte zur erstaunlich großen Gruppe der Altborussen, wie Hans-Günter Bruns, Berti Vogts, Wolfgang Kleff oder Herbert Wimmer gehörte er mehr als zehn Jahre dem Bundesliga-Team an.

In der jüngeren Gegenwart war er regelmäßig bei seinem alten Verein anzutreffen, er besuchte die Spiele im Stadion und gehörte außerdem dem vom Haus unterstützten Ehemaligen-Team an, das unter dem Namen "Weisweiler-Elf" firmiert und sommers wie winters durchs Land tourt. An der Seite von Peter Wynhoff, Bachirou Salou, Karl-Heinz Pflipsen und anderer Klubfamilienangehöriger spielte Criens dann an Orten wie Bad Salzungen, Leimbach oder Kleintettau - ähnlich wie ein Rockmusiker, der im Alter die großen gegen die kleinen Bühnen eintauscht und immer noch von seiner früheren Kunst lebt. Der Fußball war auch nach der Karriere sein Leben geblieben, er versuchte sich als Assistenztrainer im Profisport, als Nachwuchsausbilder bei der Borussia, als Spielertrainer und Chefcoach bei Klubs in der niederrheinischen Bezirks- und Landesliga.

Der Übergang in eine Existenz jenseits des Fußballs fiel ihm schwer. Criens, aus Neuss stammend und durch das Elternhaus sowie die Nachbarschaft mit den Fußball-Brüdern Wolfgang und Friedhelm Funkel verbunden, galt jedoch als ausgesprochen lebenslustiger Typ. In der Mönchengladbacher Anhängerschaft rief das unerwartete Ableben des früheren Torjägers eine starke Resonanz und große Anteilnahme hervor. Mit Hans-Jörg Criens ist eine Generation von VfL-Fans aufgewachsen, nun muss sie Abschied nehmen, die Erinnerung an den Joker vom Dienst wider Willen wird aber sicherlich bleiben.

© SZ vom 28.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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