Digitalisierung:Das Mikro der Taxifahrer bleibt aus

Taxis auf dem Münchner Marienplatz, 1961

Als in München in den Sechzigerjahren bei der Münchner Taxizentrale der Mobilfunk eingeführt wurde, durften Taxis noch direkt vor das Rathaus auf dem Marienplatz fahren.

(Foto: SCHÖDL, GEORG)

Früher bestimmte der Analogfunk den Berufsalltag der Taxler: Die Fahrtaufträge wurden teils fast im Sekundentakt vergeben - und der Funk konnte überlebenswichtig sein. Doch nun ist Schluss. Vom 1. Januar an findet alle Kommunikation digital statt.

Von Thomas Anlauf

Es dauert eine kleine Ewigkeit, bis sich endlich jemand meldet. "Zentrale von Fünfzehnsechsdrei", sagt der Fahrer. Die Frau in der Taxizentrale, die hinter drei Monitoren fast verschwindet, meldet sich. Der Fahrer hat eine Nachfrage wegen eines Funkauftrags. Auf einem der Bildschirme leuchtet es grün, nur drei Zahlen stehen gerade darauf. Eine davon ist die 1563. Mehr Taxifahrer sind gerade nicht eingeloggt im Analogfunk, bei der Taxizentrale läuft die Vermittlung von Fahrtaufträgen jetzt fast ausschließlich über das Digitalnetz. "Wir haben mal an der Messe eine Stichprobe gemacht", sagt Münchens Taxlerchef Thomas Kroker. "Da hatten von 90 Fahrern 80 den Funk gar nicht eingeschaltet." Künftig können die Münchner Taxifahrer das Mikrofon ohnehin stecken lassen. Am 1. Januar schaltet die Taxizentrale den Analogfunk nach mehr als einem halben Jahrhundert endgültig ab.

Für ältere Münchner Taxler ist das eine Zäsur. Denn der Funk bestimmte früher den Berufsalltag. Wenn viele Fahrtaufträge reinkamen, vergab sie der Funker fast im Sekundentakt an die Chauffeure draußen in der Stadt. Das ging dann etwa so: "Max zwo ... Vier Jahreszeiten ... Isartor ... für Adelgunden ..." Mit dem etwas kryptischen Code fragte der Funker die nächsten Standplätze in der Umgebung des Fahrtziels ab, in diesem Fall die Plätze am Maxmonument an der Maximilianstraße, am Hotel Vierjahreszeiten oder dem Stand am Isartorplatz. Wenn sich niemand umgehend vom Stand meldete, gab der Sprecher in der Zentrale die Fahrt frei an denjenigen, der sich am schnellsten meldete und auch gerade in der Nähe war.

Blitzschnelle Reaktion und Aufmerksamkeit waren da bei den Fahrern gefragt, schließlich ging es darum, nicht sinnlos an einem Taxistand herumzustehen, sondern darum, Geld zu verdienen. Kontrolliert werden konnte der tatsächliche Standort damals natürlich von der Zentrale aus nicht. Manche logen, dass sie just in der gefragten Straße fuhren, dabei waren sie kilometerweit entfernt. Wer beim Schummeln erwischt wurde, hatte Pech: "Der Kollege steht gerade vor mir am Rosenheimer", so lautete dann zum Beispiel der Kommentar des Petzers über Funk. Der schummelnde Fahrer wurde dann aufgefordert, auf Kanal drei des früher mit vier Kanälen ausgestatteten Funksystems zu wechseln, bekam dort einen richtigen Rüffel und die Verpflichtung, in der Taxizentrale eine Lehrstunde in Funkdisziplin zu absolvieren.

Es gab damals Kollegen (der Autor war vor Jahrzehnten selbst einmal aktiv im Taxigeschäft), die fuhren nach einer langen Nachtschicht eigens einen verschwiegenen Taxistand an. Ein besonders auf Hygiene bedachter Taxler steuerte Anfang der Neunzigerjahre jeden Morgen gegen fünf Uhr früh den Ganghoferstand auf der Schwanthalerhöhe an, stieg aus, schäumte sein übernächtigtes Gesicht ein und rasierte sich vor dem linken Außenspiegel. In der rechten Hand hielt er dabei das Funkmikrofon, damit er ja keinen Auftrag verpasste. Es soll Männer gegeben haben, die mit ihrem verlängerten Spiralkabel am Mikro nachts in die Büsche gingen, um sich zu erleichtern und gleichzeitig den nächsten Auftrag zu ergattern. Wilde Zeiten halt.

Die sind längst vorbei. "Heute wissen höchstens ein Drittel der Fahrer überhaupt, wie Sprechfunk geht", sagt Thomas Kroker. Der 50-Jährige, der seit einem halben Jahr Chef der "München Taxi eG" und damit eine der größten Taxizentralen Deutschlands ist, begann mit 21 Jahren neben dem Studium mit dem Fahren, wie so viele blieb er dabei. Noch als Student übernahm er eine Taxifirma, dann rückte er in der Hierarchie der Zentrale stetig nach oben. Er war am Funk, später stellvertretender Chef, nun oberster Taxler Münchens. Natürlich gibt es auch noch den Isarfunk, doch die Machtverhältnisse der Unternehmen sind seit dem Start in den Neunzigerjahren ungleich verteilt: Bei derzeit insgesamt 3360 Taxikonzessionen in München haben laut Kroker 2690 Autos die Technik, um für die Taxizentrale Fahrten entgegenzunehmen.

Digitalisierung: In der Zentrale werden heute Fahrtaufträge per Computer vergeben.

In der Zentrale werden heute Fahrtaufträge per Computer vergeben.

(Foto: Catherina Hess)

Das funktioniert mittlerweile vollautomatisch bis auf die wenigen Fahrer, die bis 31. Dezember auch noch die analoge Technik benutzen. Seit 2009 hat die Taxizentrale parallel zum guten alten Funk eine Digitaltechnik installiert. "Wir waren damals die letzte deutsche Großzentrale, die umgeschaltet hat", sagt Kroker. Im Nachhinein war das ein Vorteil. Während andere Zentralen mit technischen Kinderkrankheiten zu kämpfen hatten, konnten die Münchner auf ein ausgereiftes System zurückgreifen, mit denen sie heute noch arbeiten. Kroker sitzt in seinem Büro vor einem riesigen gewölbten Bildschirm. Der Hintergrund zeigt eine Ansicht von München mit Frauenkirche im Vordergrund und hinten verschneiten Bergen. Über ihm an der Wand hängt ein Foto vom 1988 gestorbenen Ministerpräsident Franz Josef Strauß, daneben ein Schild, auf dem steht "Anstaltsleitung" - Taxlerhumor.

3360 Taxis

können theoretisch maximal in München fahren, so viele Konzessionen gibt es. Zum Vergleich: 2018 waren in München insgesamt 832 524 Kraftfahrzeuge, davon 714 658 Pkw in München zugelassen. Vor genau einhundert Jahren sah das Bild auf den Straßen der Stadt noch anders aus. 1920 gab es in München 392 Kraftdroschken und 88 Pferdedroschken, die Fahrgäste gegen Entgelt transportierten. Drei Jahre zuvor, im Jahr 1917, wurde die erste Münchner Taxigenossenschaft gegründet.

Kroker schaltet sich jetzt in die Vergabe der Fahrten ein, auf seinem großen schwarzen Telefon blinken kleine Lämpchen. "Taxi München, Kroker, Grüßgott", sagt er mit sonorer Stimme. Die Dame am Telefon möchte in der Schragenhofstraße abgeholt werden. "Ich schick' Ihnen eins in fünf Minuten", sagt der Taxichef. Während des kurzen Telefonats hat er die Daten eingegeben, schon zeigt der Computer an, welcher Fahrer in der Nähe und frei ist. Bei ihm ist sogar vermerkt, wenn er keine schweren Sachen tragen kann oder ob er ein Großraumtaxi fährt. Für den Fahrer erscheint dann der Auftrag auf seinem Display im Wagen.

Keiner konnte so schnell und präzise Funkaufträge vergeben wie Siegfried Udeljak

Solche Dinge gingen mit dem analogen System natürlich nicht. Funken war auch ein Stück Vertrauenssache. Aber deshalb faszinierte der Funk auch viele Fahrer, weil sie sich wie in einer riesigen Familie fühlten. Und der Funk war oftmals auch überlebenswichtig. So rief Anfang der Neunzigerjahre eine Fahrerin ins Mikrofon, sie fahre auf der Oberföhringer Straße nach Süden stadteinwärts - und habe ein Messer an der Kehle. Die Frau tat geistesgegenwärtig das einzig Richtige: Sie schlug Alarm und gab Vollgas. Trotz der tödlichen Bedrohung. Der Mann am Funk koordinierte innerhalb von Sekunden, dass Taxifahrer in der Nähe im Konvoi über die gesamte Straßenbreite der bedrohten Kollegin entgegenfahren sollten, von hinten rasten ebenfalls Taxis der Frau hinterher. Als die Taxis blinkend vor ihr auf der Fahrbahn standen, machte sie eine Vollbremsung und ließ sich aus dem Wagen fallen. Die Polizei traf erst Minuten später ein.

Einer der legendärsten Funker der Münchner Taxizentrale starb vor elf Jahren, Siegfried "Sigi" Udeljak. Keiner konnte so schnell und präzise Funkaufträge vergeben wie er. Und er hatte scheinbar jedes Haus der Stadt im Kopf, ob es die Boazn an der Fallstraße war oder er wusste, wo der Eingang zur Arztpraxis in einem Allacher Hinterhof war. "Er war die Stimme am Funk schlechthin", sagt Kroker. Als der Sigi schon nicht mehr am Funk saß, rätselten seine Kollegen in der Zentrale an der Ehrhardstraße 6 eines Abends über die Nachfrage eines Taxlers: Der sollte einen Fahrgast in ein Lokal fahren, das den kruden Namen "Vom schwarzen Neger" tragen sollte. So eine Kneipe kannte natürlich keiner in der Zentrale, bis einer auf die Idee kam, der Gast wollte ins "Planet Hollywood" von Arnold Schwarzenegger.

Udeljak war es auch, der manchmal über den offiziellen Kanal eins dazu aufrief, im "Leierkasten" vorbeizufahren. Dort gab es für Taxler regelmäßig kostenlos Gulaschsuppe oder heiße Wiener. Das Bordell an der Ingolstädter Straße mit seinem legendären Spruch "Du kommst als Fremder und gehst als Freund" konterte damals mit einer warmen Mahlzeit der Konkurrenz, die den Taxifahrern für Freier unter der Hand manchmal Hundert D-Mark oder sogar deutlich mehr gaben. An Weihnachten freuten sich die Fahrer darauf, wenn er allen eine gute Weihnacht wünschte. Das gibt es heute nicht mehr, allein schon wegen der verschiedenen Religionen der Fahrer, sagt Kroker.

An Silvester 1992 fuhr der Autor mit seinem Taxi 131 in der leer gefegten Rosenheimer Straße stadteinwärts. Am Rosenheimer Platz war kein Durchkommen mehr. Hunderte Menschen standen dort auf der Straße und feierten, auf das Taxi prasselte ein Feuerwerk ein. In den Silvesterlärm meldete sich plötzlich am Funk eine dunkle freundliche Stimme, die sagte: "Ein gutes neues Jahr Ihnen allen."

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Brigitte Jürgensen

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:Furchtlos durch die Nacht

Brigitte Jürgensen fährt seit 22 Jahren mit dem Taxi durch München. Sie weiß nie, wer einsteigt - und liebt die Gespräche mit ihren Mitfahrern. Sie hat aber auch gelernt, sich zu schützen.

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