Nachruf:Realist der Opernträume

Harry Kupfer wird 80

Schlagfertiger Berliner Witz und dazu eine charmante Art des Unwichtigtuns: Harry Kupfer (1935 - 2019).

(Foto: Matthias Hiekel/dpa)

Er hat Wagner in Bayreuth neu gedeutet und prägte die Komische Oper in Berlin mehr als zwei Jahrzehnte lang: Der große Regisseur Harry Kupfer ist im Alter von 84 Jahren gestorben.

Von Wolfgang Schreiber

Die Komische Oper, "so wie sie heute ist, wäre ohne ihn nicht vorstellbar", twitterte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller am Montag auf die Nachricht vom Tod Harry Kupfers. Das war natürlich rundum anerkennend gemeint, enthält nur längst nicht die ganze Wahrheit über den Opernregisseur, der 1935 in Berlin geboren wurde. Zwar leitete Kupfer tatsächlich mehr als zwei Jahrzehnte, von 1981 an, als "Chefregisseur" die künstlerischen Geschicke des kleinsten der drei großen Berliner Opernhäuser, im Ostteil der Stadt gelegen, das der legendäre Walter Felsenstein zum Tempel des damals ultramodern "Realistischen Musiktheaters" gemacht hatte. Und das heute, angeführt von Barrie Kosky, in Berlin die Kunst der Oper, plus Operette, am zeitnah brisantesten vorführt. Berlin war also viele Jahre der Ort von Harry Kupfers "Heimspielen".

Er erkämpfte sich aber früh schon das Recht auf die "Auswärtsspiele". Als Bürger der DDR hatte er sich durch markante Regiearbeiten das Privileg erobert, im "anderen" Deutschland, also der Bundesrepublik, und im europäischen Ausland arbeiten zu können. Ganz so wie die Sänger Peter Schreier und Theo Adam oder, immer mit dem Risiko radikal innovativen, also abzulehnenden Denkens, die Regisseurin Ruth Berghaus.

Regelrecht entdeckt wurde Harry Kupfer im Westen im Sommer 1978, durch seine ungewöhnliche Inszenierung des "Fliegenden Holländer" bei den Bayreuther Festspielen. Auf dem Grünen Hügel erwartet ja jeden Regisseur die Feuerprobe. Und Kupfer erfuhr: Bayreuth ist der ganz besondere, von Theaterfachleuten und den hitzigen Wagnerianern fieberhaft heimgesuchte Ort. Prompt entfachte er den fast naturgegebenen Streit zwischen den Anhängern von Regietheater und Werktreue, erlebte er, standhaft bleibend, die Mixtur aus Ablehnung und Triumph, Protest und Jubel.

Kupfer und sein kongenialer Bühnenbildner Peter Sykora hatten es gewagt, Wagners frühes Erlösungsmärchen um den zu ewiger Seefahrt verdammten Holländer und sein verfluchtes Schicksal analytisch umzufunktionieren in die Parabel einer klinisch exakt beobachteten Psychose des Mädchens Senta. Sie ist es, die das Holländer-Drama aus der Perspektive ihrer erschütterten Seele erleidet. Psychologisierung pur - war das die ästhetische Verharmlosung oder eine naturgetreue Steigerung der Gemütslage einer Psychopathin? Jedenfalls war es eine grandios neue Interpretation.

Zehn Jahr später, am selben Ort: Wagners "Ring des Nibelungen", mit Daniel Barenboim am Pult in Bayreuths mystischem Abgrund, vulgo Orchestergraben. Deutlich in Erinnerung geblieben ist die "Straße der Geschichte", die atemberaubend die ganze Bühnentiefe aufriss und auf der Kupfer die Sinnbilder verortete, die Kämpfe von Gott, Held und Menschheit um die Macht und die Liebe. Der Videomitschnitt kann leider die dreidimensionale Lebenskraft, die der packenden Deutung innewohnte, nicht vermitteln.

Und in Erinnerung geblieben sind Kupfers "Meistersinger von Nürnberg", 1995 in Amsterdam. Vor allem der immer umstrittene Schluss der Oper: Beckmesser, der kläglich gescheiterte Meister, wird nach seiner lyrisch impotenten Kopie des Stolzing-Liedes auf der Festwiese von der Nürnberger Bürgerschaft gnadenlos verhöhnt und von der Bühne gejagt. Nicht so bei Kupfer: Der entdeckte in der Niederlage des Geschmähten eine bisher unbekannte Qualität, er rehabilitiert ihn. Beckmes-ser hat überraschenderweise Einsicht gewonnen in sein Vergehen, hat offenbar blitzschnell die Vorzüge einer kreativ freien statt der von ihm gelebten regelpedantischen Meisterehre verinnerlichen können. Und so wird er bei der Schlussansprache des Hans Sachs, dem er immer gebannter zuhört und am Ende beseligt gratuliert, zu dessen wahrem Zunftgenossen.

Angeeignet hatte sich Harry Kupfer sein Opernmetier, nach dem Leipziger Studium der Theaterwissenschaft in den Fünfzigerjahren, etwa mit dem Hospitieren bei Walter Felsenstein an der Komischen Oper Berlin. Es zog ihn an kleinere ostdeutsche Häuser, beispielsweise ging er als Regieassistent nach Halle und als Oberspielleiter darauf nach Stralsund und Chemnitz, damals Karl-Marx-Stadt. Hier lernte er am meisten bei dem Felsenstein-Schüler Karl Riha: "Ich habe gestaunt", sagte Kupfer im Gespräch, "wie er mit Chören arbeiten konnte. Er hat mit jeder Chorgruppe einzeln gearbeitet, er sprach mit jedem einzelnen Mitglied des Chors. Dadurch wurde aus einer gesichtslosen Masse plötzlich eine Schar von Individuen." Daraus wird klar, warum Choropern bei Kupfer dermaßen spannend durchgeformt erscheinen konnten: Mozarts "Idomeneo" oder Wagners "Lohengrin" ebenso wie Bernd Alois Zimmermanns "Die Soldaten", Mussorgskis "Boris Godunow" oder Aribert Rei-manns "Troades".

Nach den Lehrjahren führte Kupfers Weg nach Weimar und darauf nach Dresden, jeweils als Operndirektor. 1971 hatte er in "Berlin, Hauptstadt der DDR" debütiert, an der Staatsoper, mit der komplizierten Mythen-Oper "Die Frau ohne Schatten" von Richard Strauss. Und überhaupt: Wagner und Strauss, Mozart und Verdi, mit und an denen er sich am konfliktreich lohnendsten abarbeiten konnte, standen im Zentrum von Kupfers Denken und Arbeiten, realisiert in Berlin oder an den großen Opernhäusern Europas: in Wien und München, in London, Mailand, Florenz und Barcelona. Den "Parsifal" inszenierte er sogar in Tokio.

Selbstverständlich setzte sich Harry Kupfer - stets mit den darstellerischen Mitteln eines detailgenauen "realistischen Musiktheaters" - auch mit Opern des 20. Jahrhunderts auseinander, so mit Alban Bergs "Wozzeck" und "Lulu", mit Janaceks "Jenufa", Brittens "Turn of the Screw", Pendereckis "Die schwarze Maske", Reimanns "Lear" oder Henzes "König Hirsch".

Kultstatus errang Kupfer aber auch mit einer Barockoper Händels, an der Komischen Oper Berlin, wo im "Giustino" Countertenor Jochen Kowalski eine ganze Epoche lang triumphieren konnte. Ebendort stemmte Kupfer, der Chefregisseur des Hauses, in den Achtzigerjahren seinen großen Mozart-Zyklus, so wie er in den Neunzigern, nach dem Fall der Berliner Mauer, mit Daniel Barenboim an der (nun ehemals Ostberliner) Staatsoper alle zehn großen Wagner-Opern herausbrachte.

In einem Gespräch mit der SZ, das im Herbst vor drei Jahren am Berliner Gendarmenmarkt stattfand, erzählte Kupfer, der 81-Jährige, der sich seinen pfiffigen Berliner Witz und eine charmante Art des Unwichtigtuns erhalten hatte, von seinen frühen Offenheitserfahrungen in der geteilten Hauptstadt. Denn wäre der Bau der Mauer vor 1961 erfolgt, so erinnerte er sich noch genau, wäre seine ganze Entwicklung "schmalspurig verlaufen". Aber "dank West-Berlin" gab es für den Ost-Berliner damals die Möglichkeit, "alles mitzunehmen, was gut und teuer und bedeutend war". Und deshalb: "Ich war informiert über das moderne Welttheater durch die Stadt Berlin. Wir konnten das unter-schwellig diskutieren."

Es erscheint wie eine höhere Fügung, dass der 83-jährige Harry Kupfer im März vergangenen Jahres, nach langer Zeit der Abwesenheit, an sein altes Haus zurückkehrte, Berlins Komische Oper, um hier "Poros", die wenig bekannte Indien-Oper Georg Friedrich Händels von 1731 zu inszenieren. Noch einmal bekannte er sich zu seinem künstlerischen Credo, dass nämlich die reale Welt der Geschichte und des Lebens, hier verkörpert in dem Eroberer Alexander der Große, den Visionen und Träumen des Musiktheaters den Halt und den Rahmen allen Liebens und Leidens der Menschen geben. Jetzt ist Harry Kupfer mit 84 Jahren in Berlin gestorben.

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