"Little Joe" im Kino:Sie werden diese Pflanze lieben wie Ihr Kind

Film "Little Joe"

Die Biogenetikerin Alice (Emily Beecham) steht kurz davor, ein sensationelles Produkt auf den Markt zu bringen.

(Foto: X Verleih)

Jessica Hausner zeigt in ihrem Science-Fiction-Film "Little Joe" was passiert, wenn der Mensch versucht, Glücksgefühle im Gewächshaus zu züchten.

Von Annett Scheffel

Gleich zu Beginn zeigt die Kamera den stillen, aber wichtigsten Akteur dieses Films: Von oben blicken die Zuschauer in einem langsam kreisenden Schwenk auf Hunderte Pflanzensetzlinge in einem Hightech-Gewächshaus. Feinsäuberlich angeordnet in langen Reihen, unter ihnen das matte Schimmern der weißen Plastiksäcke voll Blumenerde, in die sie hineingepflanzt wurden. Und dann ist in dieser sterilen Glaskammer plötzlich die Rede von einem ganz menschlichen Gefühl. Eine Wissenschaftlerin führt Besucher herum und verspricht: "Sie werden diese Pflanze lieben wie Ihr eigenes Kind."

Was nach einem schlechten Werbespruch klingt, ist der Auftakt zu einem Science-Fiction-Szenario, mit dem die österreichische Regisseurin Jessica Hausner die Fixierung auf das individuelle Glück infrage stellt. Alice, die Hauptfigur in Hausners Film "Little Joe", gibt diese Verkäuferfloskel in der Art von sich, mit der sie alles zu sagen und zu tun scheint, bei der Arbeit und im Leben: eigenartig unterkühlt. Dabei gäbe es Grund zur Freude. Die Biogenetikerin und alleinerziehende Mutter liebt ihren Job und steht kurz davor, eine sensationelle Züchtung auf den Markt zu bringen: Little Joe, wie sie die Zimmerpflanze mit der purpurroten Blüte nach ihrem Sohn getauft hat, soll Menschen mit ihrem Duft glücklich machen - solange man sie warm hält, liebevoll pflegt und auch mal mit ihr redet. Dann, erklärt Alice den Besuchern, produziere sie eine Vorstufe von Oxytocin, dem sogenannten Mutterhormon.

Ganz so einfach ist die Sache dann natürlich doch nicht. Denn weil Jessica Hausner mit ihrem sorgfältig stilisierten Arthouse-Film nicht nur ein Gedankenexperiment im Sinn hat, sondern auch einen bösen Seitenhieb auf die Glücksindustrie, nimmt sie für die Handlung bald Elemente des klassischen Horrorfilms auf. Die genetisch modifizierten Pflanzen scheinen ein beunruhigendes Eigenleben zu entwickeln und das Wesen der Menschen in ihrem Umfeld zu verändern. Weil Alice eine der Pflanzen mit nach Hause nimmt, muss sie sich bald auch Sorgen um ihren Sohn machen. Oder bildet sie sich das alles bloß ein?

Die Verwandlung der Menschen durch die Blume ist nahezu unsichtbar, findet fast unmerklich statt

Die Geschichte erinnert an die frühen Filme von David Cronenberg und an Don Siegels "Die Dämonischen" von 1956. Während die emotionslosen, außerirdischen Doppelgänger der Menschen bei Siegel ein Kommentar auf die McCarthy-Ära waren, zielt Hausner mit "Little Joe" auf die beunruhigenden Seiten von Neoliberalismus und Selbstoptimierung, auf eine Gesellschaft, in der Glück ein Zustand geworden ist, der sich mit Geld und Medikamenten erreichen lässt. Die Ungewissheit, was real ist, und was nur eingebildet, zieht sich durch den gesamten Film. Das Geheimnis wird nie aufgelöst. Stattdessen werden Vorgänge wiederholt und Bekanntes immer wieder erklärt - bis auch der Zuschauer dem Wahnsinn ein Stück näherkommt.

Hausners Bilderwelten sind so artifiziell und auf beunruhigende Art aseptisch, dass sie beim Zuschauen zunehmend verstörend wirken. Alles in "Little Joe" ist in betont satten Farben streng komponiert: das aggressive Rot der Blüten in der weißen Gewächskammer, an denen Kameramann Martin Gschlacht in langen Einstellungen entlangfährt, die Spiegelungen auf den Glaswänden und glatten Oberflächen, abends taucht die Nachtbeleuchtung alles in ein pinkfarbenes, blutiges Licht wie in Dario Argentos Horrorklassiker "Suspiria". Noch wirkungsvoller ist das alles wegen der hervorragenden Filmmusik, die immer wieder über die klaren Bilder hereinbricht wie ein Fiebertraum: In der kakofonischen Percussion-Musik des 1982 verstorbenen japanischen Avantgarde-Komponisten Teiji Ito wabert und trommelt und klappert es metallisch, es bellen Hunde darin und es fiepen Pfeifen wie bei einer Voodoo-Zeremonie.

Die ganze Atmosphäre ist stilisiert. Dass die Verwandlung der Menschen unsichtbar, fast unmerklich ist, liegt auch daran, dass sich in Hausners Welt von Anfang an alles seltsam anämisch anfühlt. Alle Figuren wirken einsam, verloren. Sie begegnen einander höflich, aber auf unnatürliche Weise reserviert. So klingen auch die Dialoge. Zwischen Alice und ihrem Arbeitskollegen Chris (Ben Whishaw) etwa, dessen Annäherungsversuche sie unbeholfen zurückweist. Oder am Küchentisch mit ihrem Sohn, der zwar coole neue Sneaker bekommt, aber wenig gemeinsame Zeit.

Emily Beecham, die 2019 in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde, spielt diese gewissenhafte Alice mit einem beeindruckend bewegungslosen Gesicht, aus dem man aber trotzdem alle Feinheiten ihrer Figur herauslesen kann: das Pflichtbewusstsein und die Angst, die Liebe zu ihrem Sohn und ihr schlechtes Gewissen, ihrer Mutterrolle nicht zu genügen. Man merkt schnell, dass es Jessica Hausner auch um die Lebensrealität von Frauen im Zeitalter des Glücksdiktats geht. Wie soll das zusammengehen, Beruf und Familie, Mutterliebe und der Wunsch nach Autonomie?

Little Joe, Österreich/D/Großbritannien 2019 - Regie: Jessica Hausner. Buch: Jessica Hausner, Géraldine Bajard. Kamera: Martin Gschlacht. Mit: Emily Beecham, Ben Whishaw. X-Verleih, 106 Minuten.

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