Biomedizin:Raus aus dem Labor

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Menschliche Organoide auf einem Chip, Simulationen mit dem Computer: Können moderne Techniken Tierversuche ersetzen?

Von Jan Schwenkenbecher

Die zwei Inkubatoren sind auf 37 Grad Celsius eingestellt. Ganz wie im menschlichen Körper, ihr Inhalt braucht das so. Draußen, auf den Straßen im Berliner Wedding ist es frostig. Der Himmel ist wolkig, die Sonne steht tief. Um zu den Brutschränken zu gelangen, geht es durch den Innenhof eines gelben Backsteinblocks, dort in Gebäude C, Aufgang 15, mit dem Lastenaufzug in den vierten Stock und dann vorbei an verglasten Konferenzräumen bis in das Labor. Von irgendwoher dudelt José Felicianos Feliz Navidad durch das Zimmer. Hier stehen die beiden Inkubatoren, in denen die Organe liegen.

Niemand mag Tierversuche.

Und doch gibt es zwei Sichtweisen auf die Tatsache, dass im Jahr 2018 insgesamt 2 784 586 Tiere deutschlandweit für die Forschung eingesetzt wurden: Unnötige Quälerei, sagen die einen, überlebenswichtige Erkenntnisse, sagen die anderen.

Man könne nie wissen, ob ein bestimmter Mäuseversuch nun wirklich zur Entwicklung einer neuen Therapie führt, heißt es oft unter Gegnern. Immerhin: Acht bis neun von zehn Therapieansätzen, die im Tierversuch vielversprechende Ergebnisse liefern, schaffen es nicht bis zur Zulassung. Die Befürworter hingegen zählen Meilensteine der Medizingeschichte auf, die mit und an Tieren entwickelt wurden: Insulin, Antibiotika, Herz- und Hirnschrittmacher, Strahlen- und Chemotherapie. Und sie verweisen darauf, dass in den vergangenen 50 Jahren der Medizinnobelpreis nur zwei Mal an Forscher verliehen wurde, die bei ihrer Forschung ohne Versuchstiere auskamen.

Dennoch gibt es einen Punkt, dem stimmen Gegner wie Befürworter von Tierversuchen zu: Alternativen wären gut. Schon im Jahr 1959 veröffentlichten der Zoologe William Russell und der Mikrobiologe Rex Burch das Buch "The Principles of Humane Experimental Technique", in dem sie ihr 3R-Prinzip aufstellten. Die drei Rs stehen für Replacement, Reduction und Refinement. Zu Deutsch: Vermeidung, Verringerung, Verfeinerung. Wenn möglich, sollte auf Tierversuche verzichtet werden. Wenn das nicht geht, sollten wenigstens die Anzahl so klein und die Bedingungen so gut wie nur irgend möglich gehalten werden.

Noch heute verpflichten sich fast alle Forscher diesem Prinzip. Auch das Tierschutzgesetz fordert: "Es ist zu prüfen, ob der verfolgte Zweck nicht durch andere Methoden oder Verfahren erreicht werden kann."

Allerdings hat die EU-Kommission im Sommer 2018 ein Vertragsverletzungsverfahren unter anderem gegen Deutschland eingeleitet, weil die Tierschutzvorgaben einer EU-Direktive nicht ausreichend umgesetzt worden seien. Für Deutschland reiche die Regelung in den Punkten "Inspektionen, Mitarbeiterkompetenz und Anwesenheit von Tierärzten" nicht aus. 2019 wiederholte die EU-Kommission ihre Vorwürfe gegenüber Deutschland. Und immer wieder veröffentlichen Medien Berichte über vermeintliche oder tatsächliche Missstände in Laboren.

Etwa im Herbst 2014, als heimlich angefertigte Aufnahmen über Affenversuche am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen für Aufsehen sorgten. Viele der damals erhobenen Vorwürfe sind allerdings inzwischen entkräftet. Oder im vergangenen Oktober im Tierforschungslabor LPT bei Hamburg.

In beiden Fällen forderten Tierschützer ein Ende jeglicher Tierversuche - das allerdings massive Auswirkungen auf die Gesundheit von Millionen von Menschen weltweit hätte.

Beide Fälle zeigen aber auch, wie wichtig es ist, dass sich immer mehr Forscher dem Thema annehmen und nach Wegen suchen, wie die drei Rs verbessert werden könnten. Die Uni Gießen etwa hat im Herbst 2017 ein 3R-Forschungszentrum eingerichtet, das Seminare für Nachwuchswissenschaftler anbietet. Dort lernen sie den Umgang mit Versuchstieren und üben etwa an Mäusepuppen, wie sie dem Tier eine Spritze setzen. Auch die Berliner Charité hat vor einem Jahr ein solches Zentrum gegründet.

Doch es ist vor allem das erste der drei Rs, das in den vergangenen Jahren den Forschergeist beflügelt hat: Replacement. Alternativmethoden werden zunehmend populärer. Einen Ansatz findet man in den Brutschränken im Wedding.

Die Inkubatoren gehören der Firma Tissuse. In ihnen liegen bei wohligen 37 Grad tatsächlich menschliche Organe, allerdings etwa 100 000 Mal kleiner als im menschlichen Körper. Sie befinden sich auf dem technologischen Herzstück der Firma: ihren Multi-Organ-Chips. Auf diesen Chips, die vom Erscheinungsbild her an eine alte Musikkassette erinnern, haben bis zu vier Organe in kleinen Behältern Platz. Feinste Kanäle, die Blutgefäßen ähneln, verbinden die Behälter. Eine Steuerungseinheit pumpt ein Nährmedium über Schläuche mit 30 Schlägen pro Minute durch den Chip.

Mit diesen Chips möchte Tissuse-Chef und Humanbiologe Uwe Marx ein altes Problem lösen. "Schon als ich nach meinem Medizin-Studium an der Charité zu forschen anfing", erzählt Marx, "hat mich das Problem umgetrieben, dass zwischen 80 und 90 Prozent der Arzneimittel, die wir mit allen erdenklichen Versuchen am Tier getestet haben, im Menschen durchfallen." Noch heute bekommt nur jedes zehnte Medikament, das es in eine Phase-1-Studie schafft, nachdem es an Tieren getestet wurde, später auch eine Zulassung. "Die Tiere sind offenbar phylogenetisch so weit vom Menschen weg, dass sie nicht aussagekräftig genug sind", so Marx. "Und die In-vitro- Systeme, die Zellkulturen, können Organe, aber keinen Organismus abbilden."

Marx' Chips sollen beides vereinen. Gerade arbeitet die Firma an einem Exemplar, auf dem elf Organe je nach Forschungsfrage kombiniert werden können. Bislang kann die Berliner Firma Leber, Niere, Darm, Gehirn, Lunge, Herz, Haut, Fettgewebe, Blutgefäße, Knochenmark, Haarfollikel oder Lymphknoten züchten. Der 11-Organ-Chip soll in eineinhalb bis zwei Jahren fertig sein, und er soll, so nennt es Marx, ein "universelles physiologisches Template" werden. Damit meint er: eine Plattform für mindestens zehn Organe, die sich selbst erhält, die ausscheidet, wenn man sie füttert, die ihr eigenes Blut produziert und ihre eigenen Proteine. Kurz: ein stabiler Organismus.

Noch ist das eine Hoffnung für die Zukunft. Doch die Forscher von Tissuse sind nicht die einzigen Wissenschaftler, die an Multi-Organ-Chips arbeiten. Auch am MIT, am Wyss Center in Genf oder am Fraunhofer-Institut gibt es entsprechende Arbeitsgruppen. In einer EU-weiten Initiative, dem Orchid-Projekt, haben sich die verschiedenen Stakeholder zusammengeschlossen.

Ob sich so ein Chip schon mal im konkreten Vergleich mit Tierversuchen bewährt hat? Marx verweist auf eine Arbeit aus dem Jahre 2013. Auf einem Chip hatte sein Team eine Leber und eine Haut kombiniert. Damit testeten sie Troglitazon, einen Diabetes-Wirkstoff. Es wurde 1997 zugelassen, musste aber drei Jahre später wieder vom Markt genommen werden. "In den Tierversuchen und auch in den klinischen Prüfungen war nicht sichtbar, dass es einen lebertoxischen Effekt gab", sagt Marx. "Auf dem Chip aber sahen wir: die Substanz ließ die Haut in Ruhe, griff die Leber allerdings an."

Ein anderer Alternativansatz basiert ebenfalls auf Chips, allerdings auf Computerchips. Dabei versuchen Forscher, den menschlichen Körper im Computer zu simulieren. Sie wollen die Tiere durch Algorithmen ersetzen. Anhand der Daten aus Tierversuchen oder aus Experimenten mit Zellkulturen wollen sie Moleküle, Zellen, Gewebe, Organe oder ganze Organismen berechenbar machen. Dann sollen die Maschinen vorhersagen, wie das Lebende etwa auf eine neue Substanz reagieren würde. "Durch eine Kombination von Computersimulationen und gewebebasierten Experimenten kann man Tierversuche selektiver und spezifischer planen und dadurch ihre Zahl verringern oder sie manchmal ersetzen", sagt Peter Jedlicka, Professor für Computerbasiertes Modelling im 3R-Tierschutz am 3R-Forschungszentrum der Uni Gießen.

Sein Fokus liegt auf Computermodellen, die Nervenzellen simulieren. "Uns ist es vor Kurzem gelungen, eine neue Software zu schreiben, die es ermöglicht, Tausende Nervenzellstrukturen aus einer anatomischen Datenbank in elektrophysiologische Modelle zu integrieren", sagt Jedlicka. Ein Beispiel dafür, wie Computermodelle Datenbanken nutzen, in denen Forscher ihre Tier-Daten online teilen und damit Doppelerhebungen vermeiden.

Und neben Nervenzellen können Computermodelle noch viel mehr simulieren. Forscher der Universität Padua haben ein Modell zur Insulinsekretion der menschlichen Bauchspeicheldrüse erstellt. An der Oxford-Universität wurde ein Modell menschlicher Herzmuskelzellen entwickelt. Und Forscher der Johns-Hopkins-Universität haben ein Modell zur Testung von Toxizität programmiert. Letzteres sorgte 2018 für Schlagzeilen, weil es genauere Vorhersagen treffen konnte als Versuche an Mäusen.

Der große Vorteil von Computermodellen liege darin, so Jedlicka, "dass man mit ihrer Hilfe die Effekte einer großen Zahl von biologischen Faktoren und ihrer beliebigen Kombinationen berechnen kann". Modelle, die auf der Basis von vielen menschlichen Daten erstellt würden, hätten großes Potenzial, klinisch relevante Vorhersagen zu generieren. Dennoch gebe es Grenzen: "Man kann sie als datenbasierte Gedankenexperimente sehen", sagt der Neurowissenschaftler. "Daher gilt, dass realistische Computermodelle nur so gut sein können, wie gut die experimentellen Daten sind, auf denen sie beruhen." Häufig brauche es viele Experimente, um die Parameter richtig einzustellen. Und selbst dann gebe es gewisse Grenzen, etwa wenn man Vorgänge "auf der höchsten Ebene des ganzen Organismus" verstehen wolle.

Auch der Human-on-a-Chip hat seine Grenzen, Knochenbrüche zum Beispiel. "Wir können Knochen herstellen und wir können sie auch brechen", sagt Tissuse-Chef Marx, "aber wenn einem Menschen der Unterschenkel bricht und wieder zusammenwächst, dann ist das eine andere Dimension." Ähnlich sei das beim Herzen. Die äußeren Bedingungen, also dass in einem Menschen das Blut von den Füßen entgegen der Schwerkraft nach oben gepumpt wird, lässt sich derzeit nicht simulieren. Hinzukommt noch ein weiterer Punkt: "Was wir niemals simulieren würden, sind Bewusstsein oder Empathie. Und damit fallen dann auch viele psychische Krankheiten weg."

© SZ vom 11.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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