Frankreich:Vor der Zersplitterung

Dem Land droht eine Entwicklung wie in Großbritannien: Der Unmut in der Bevölkerung steigt, der Populismus wächst - und der Präsident verschätzt sich gewaltig.

Von Nadia Pantel

Kurz bevor Emmanuel Macron im Mai 2017 zum Präsidenten gewählt wurde, gingen Frankreichs Linke auf die Straße: nicht gegen seine rechtsradikale Konkurrentin Marine Le Pen, sondern dagegen, dass sie sich zwischen Macron und Le Pen entscheiden mussten. "Weder sie noch er" hieß ihre Losung.

Als Le Pens Vater Jean-Marie, der Gründer des Front National, es im Jahr 2002 in die Stichwahl ums Präsidentenamt geschafft hatte, wurde auch demonstriert, aber nur gegen Le Pen. Die Tochter ist vorsichtiger als der Vater. Doch wer Le Pen wählt, weiß heute wie damals, bei welcher Grundidee er sein Kreuz macht: Ausländer raus - dann bleibt mehr für mich.

Nicht die Le Pens haben sich bewegt, sondern der Rest der französischen Gesellschaft. Und zwar Richtung Le Pen. Schaut man heute von Frankreich aus auf das vom Brexit zerrüttete Großbritannien, wirkt es wie ein Blick in eine mögliche Zukunft: ein Land in Totalblockade, in dem Politik aus Lügen geschmiedet wird. Es ist vorstellbar geworden, dass sich nicht nur die Insel selbst zerlegt, sondern auch der Nachbar auf der anderen Seite des Ärmelkanals - Europas große Nationen vereint im postimperialen Phantomschmerz.

Aktuelle Prognosen sagen für die Präsidentschaftswahl 2022 erneut ein Duell zwischen Macron und Le Pen voraus. Mit dem Unterschied, dass Le Pen im zweiten Wahlgang auf 45 Prozent der Stimmen kommen könnte, statt wie 2017 auf knapp 34 Prozent. Dies wäre ein massiver Stimmenzuwachs für diejenige, die die Gegenwart in den schwärzesten Farben malt und außer Abschottung keine Ideen hat.

Die Macron-Gegner auf der Linken begründen dies damit, dass der Präsident den Sozialstaat abbaut. Doch wäre der Kampf "Arm gegen Reich" die Hauptsorge der Franzosen, sähen die Wahlprognosen anders aus. Denn dann wäre die France Insoumise, die den Platz der Sozialisten übernommen und Linkssein zu einer radikalen Angelegenheit gemacht hat, die Alternative zu Macron.

Mehr Sozialstaat und EU-Skepsis - das kann man in Frankreich ohne fremdenfeindliche Rhetorik wählen. Doch die France Insoumise profitiert nicht von der neuen Lust am Aufstand. Auf den Demos gegen die Rentenreform wehen zwar rote Fahnen, die Mehrheit derer aber, die nach Revolution schreit, will nicht links sein. Sie will auch nicht rechts sein. Sie nennen sich, bescheiden und selbstbewusst zugleich, das Volk. Bescheiden, weil sie sich nicht zutrauen, eine Utopie zu entwickeln, die für alle gelten könnte. Selbstbewusst, weil sie daran glauben, dass jeder von ihnen gehört werden sollte. Dieses rebellierende Frankreich ist der Ideologien müde.

Seit Macron die öffentliche Bühne betreten hat, bemüht er sich darum, als Antipolitiker zu erscheinen. Dies war einer seiner ersten großen Fehler. In seinem Versuch, sich vom System abzuheben, wertet der Präsident die Institutionen ab. Das Parlament? Zu langsam. Die Parteien? Zu verkrustet. Die Medien? Sowieso unfair.

Nur ist Macron so durch und durch strebsam, erfolgreich und glatt, dass niemand ihm den Außenseitergestus wirklich abnimmt. Die Rolle des Outlaws wurde schon vor Jahrzehnten an Jean-Marie Le Pen vergeben. Seine Tochter hat diese Rolle geerbt. Ihr ist Erstaunliches gelungen: In diesen Zeiten des Elitenhasses gilt ihre klar rechtsradikale Partei als unpolitisch. Einfach weil sie das gesamte politische System für Dreck erklärt.

Um Le Pen zu schwächen, müsste Macron seinen Kurs grundlegend ändern. Das betrifft weniger seine Wirtschaftspolitik, sondern eher sein Demokratieverständnis. Ein wirklicher Gegenentwurf zu Le Pen, das wäre jemand, der das Parlament stärkt. Jemand, der gegen die Autoritätsfixierung der Republik anarbeitet. Bislang tut Macron das Gegenteil. Die von ihm initiierten Debatten und Volksbefragungen haben das Ziel, ihm als Präsidenten ein Gefühl dafür zu vermitteln, was die Menschen in Frankreich bewegt. Stattdessen bedürfte es echter Mitbestimmung. Und es bräuchte Wege, dem Präsidenten zu widersprechen, die nicht darauf hinauslaufen, dass man Barrikaden anzündet oder den öffentlichen Nahverkehr lahmlegt.

Der Protest der Gelbwesten war ein überdeutlicher Weckruf. Macron hat ihn gehört und sich entschieden, auf Snooze zu drücken. Die Ruhe zwischen Gilets-jaunes-Aufstand und dem Anti-Rentenreform-Streik war mit Steuergeschenken erkauft. Doch die Menschen in den Warnwesten haben nicht nur mehr Geld gefordert, sie wollten einen Platz in der Gesellschaft. Sie standen am Kreisverkehr, weil sie kein Postamt, keinen Bahnhof und keine Bürgersprechstunde mehr haben. Sie wünschten sich Volksabstimmungen, weil sie den Glauben an die repräsentative Demokratie verlieren.

Macrons politische Gleichung lautet: Schnell und effizient ist gleich gut. Langwierige Entscheidungsfindungen hält er für Zeitverschwendung. Er verschätzt sich. Frankreich droht nicht der Stillstand, sondern die Zersplitterung.

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