Polen:Konkurrenz der Opfer und Befreier

Child Survivors Of Auschwitz

Kinder in Auschwitz. Das Foto wurde aufgenommen von einem Fotografen der Roten Armee, Alexander Vorontsov.

(Foto: Getty Images)

Kontroversen um das Auschwitz-Gedenken gibt es seit Langem. Und die Protagonisten werden immer mehr: Nun streiten Polen, Israel, Russland und die Ukraine. Nicht nur um Opfer, sondern auch um den Tag der Befreiung.

Von Thomas Urban, Madrid

Eine Kontroverse überschattet die Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Befreiung des Lagerkomplexes Auschwitz: Die Absage des polnischen Präsidenten Andrzej Duda an die Adresse der Organisatoren der Feier in Jerusalem am Donnerstag machte Schlagzeilen. Er führte an, dass er als Staatsoberhaupt Polens, des Landes, in dem die deutschen Besatzer die Vernichtungslager einrichteten und das die größte Opfergruppe stellte, auf der Feier nicht reden solle. Die Berichterstattung der internationalen Presse war durchweg negativ für Warschau, Tenor: die Nationalkonservativen an der Weichsel brüskieren Israel und die Nachkommen der Opfer.

Wenig Beachtung fand dagegen, dass kein Geringerer als Schewach Weiss, der frühere Knesset-Präsident und Vorsitzende des Rates der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, die Entscheidung Dudas, der Feier in Jerusalem fernzubleiben, vehement verteidigte. Weiss erklärte, dass die Veranstalter, das "Welt-Holocaust-Forum", eine Feier, die dem Gedenken der Opfer gewidmet sein sollte, in die politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart gezogen hätten. Er verwies darauf, dass an der Spitze des Forums ein russischer Oligarch stehe, dem Nähe zu Kremlchef Wladimir Putin nachgesagt wird. Er habe diesem einen großen Auftritt verschaffen wollen.

Putin hatte in den vergangenen Wochen mit heftigen Attacken an die Adresse Warschaus offenbar gezielt den seit Langem schwelenden polnisch-russischen Geschichtsstreit um den Zweiten Weltkrieg angeheizt. So behauptete er, die polnische Vorkriegsregierung habe dazu beigetragen, den Holocaust vorzubereiten. Den damaligen polnischen Botschafter in Berlin, Józef Lipski, nannte er ein "antisemitisches Schwein".

Unter Historikern ist weitgehend unumstritten, dass die letzte polnische Regierung vor dem Krieg eine antisemitisch motivierte Politik der Ausgrenzung der Juden betrieb, die auch vom Primas der katholischen Kirche, Kardinal August Hlond, gebilligt wurde. Der Kurs lief darauf hinaus, mit administrativem und wirtschaftlichem Druck Juden zur Auswanderung zu drängen. Allerdings lag diese Emigration auch im Interesse zionistischer Organisationen, die die Gründung des Staats Israel anstrebten.

Auch machten polnische Historiker sogleich eine Gegenrechnung auf: Sie verwiesen auf die antisemitischen Säuberungswellen unter Stalin, den Putin als großen Militärstrategen verehren lässt, sowie auf das "Schwarzbuch über den Genozid der sowjetischen Juden", das die Schriftsteller Ilja Ehrenburg und Wassili Grossman unmittelbar nach dem Krieg verfasst hatten. Laut den von ihnen gesammelten Berichten Überlebender war es auch in den besetzten Gebieten Russlands an der Tagesordnung, dass Einheimische ihre jüdischen Nachbarn an die Deutschen verrieten. Das Buch durfte in der Sowjetunion nicht erscheinen, da es den Stalin'schen Mythos vom heldenhaften und geschlossenen Kampf der Russen gegen die deutschen Besatzer widerlegte.

Hintergrund für den aktuellen Streit bildet die Jahrzehnte alte Kontroverse um die "Konkurrenz der Opfer". Zu Zeiten des Parteiregimes wurde der staatliche Antisemitismus der Führungen in Moskau und Warschau geleugnet, das besondere Schicksal der Juden, für die die deutschen Besatzer die Ermordung vorgesehen hatten, durfte nicht herausgestellt werden, auch nicht in Auschwitz. Die größte Opfergruppe wurde damals schlicht als "Polen" kategorisiert. Doch sind die Juden ermordet worden, nicht weil sie polnische Staatsbürger waren, sondern weil sie aus jüdischen Familien stammten.

Auschwitz war Standort von drei Konzentrationslagern mit unterschiedlichen Funktionen

Nach der politischen Wende von 1989/90 rückte die Schoah (hebräisch: Katastrophe) der Juden in das Zentrum der Gedenkfeiern von Auschwitz, polnisch Oświęcim. In den Hintergrund trat dabei, dass die Kreisstadt, die im Zweiten Weltkrieg an das Deutsche Reich angeschlossen worden war, der Standort von drei Konzentrationslagern mit unterschiedlicher Funktion war: das Stammlager (KL Auschwitz I), für das das Tor mit dem Spruch "Arbeit macht frei" steht; das knapp drei Kilometer entfernte, also räumlich und auch organisatorisch getrennte Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, das das Bild von der Eisenbahnschiene durch den Wachturm zur Selektionsrampe symbolisiert; schließlich das außerhalb der Stadt liegende Arbeitslager Auschwitz-Monowitz.

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee Auschwitz. Am Montag werden bei der Gedenkfeier etwa 200 Überlebende aus vielen Ländern im Mittelpunkt stehen, etwa 20 Staats- und Regierungschefs haben ihre Teilnahme angekündigt

Viele der Konflikte der vergangenen Jahre hatten mit der keineswegs unbegründeten Klage der Polen zu tun, vor allem in den USA und der Bundesrepublik werde übersehen, dass in Auschwitz, nämlich im KL I, Tausende Angehörige der katholischen Intelligenz des Landes interniert waren, von denen ein Großteil ermordet wurde. Zu diesen Kontroversen gehörten in den Neunzigerjahren die Auseinandersetzungen um das Kloster der Karmeliterinnen und um den Kiesplatz, einer Geländesenke, in der mehr als hundert Angehörige der Krakauer Intelligenz erschossen wurden, unter ihnen Professoren der Jagiellonen-Universität. In beiden Kontroversen um christliche Symbole in Auschwitz I gaben die polnischen Nationalkatholiken auf Bitten von Papst Johannes Paul II. nach, dem der christlich-jüdische Dialog Herzenssache war.

Putin versucht, die Befreiung Russland zuzuschreiben, dabei waren es Ukrainer

Die schwelende Kontroverse zwischen polnischen Nationalkonservativen und jüdischen Organisationen hat allerdings seit der Doppelherrschaft der Kaczyński-Zwillinge an der Spitze von Staat und Regierung in den Jahren 2006/7 eine neue Richtung genommen: Die Brüder unternahmen ernsthafte Bemühungen, in der polnischen Rechten eine Distanzierung vom traditionellen Antisemitismus durchzusetzen. Lech Kaczyński, der 2010 beim Flugzeugunglück von Smolensk starb, bekam als Staatspräsident dafür hohe israelische Verdienstorden. Allerdings wiesen jüdische Organisationen entschieden die Versuche zurück, eine Opfergemeinschaft aus polnischen Katholiken und Juden während des Kriegs zu konstruieren, wie dies die Geschichtspolitik der jetzigen Führung in Warschau anstrebt.

Doch nicht nur um Opfer wird gestritten, sondern auch um den Tag der Befreiung. An der Weichsel wird befürchtet, dass Putin versuchen wird, die Befreiung von Auschwitz Russland zuzuschreiben - als Rechtsnachfolger der Sowjetunion. Doch war es die Ukrainische Front, ein Großverband der sowjetischen Streitkräfte, dem überwiegend Soldaten aus der heutigen Ukraine angehörten. So wird denn auch in Kiew dagegen protestiert, dass Putin allein die Befreier vertritt und gleichzeitig die Ukrainer als Kollaborateure der Deutschen attackiert. Dabei war der Vater des früheren Präsidenten Viktor Juschtschenko selbst Auschwitz-Häftling. Und dessen Amtsnachfolger Wolodomir Selenskij stammt aus einer jüdischen Familie, die Angehörige im Holocaust verloren hat.

Polnische Historiker haben auch begonnen, ein düsteres Kapitel zu erforschen, das mit dem Tag der Befreiung seinen Anfang nahm: Der sowjetische Geheimdienst übernahm einen Teil der Lagerbaracken von Auschwitz I und inhaftierte dort Offiziere der polnischen Untergrundarmee AK, die sich gegen die Sowjetisierung ihrer Heimat wehrten, sowie deutsche Oberschlesier. Das Lager wurde also weitergeführt, nur mit anderen Gefangenen und Aufsehern. Deutsche Historiker machen einen Bogen um das Thema, um nicht in den Verdacht der Relativierung der deutschen Schuld zu geraten. Nur ein einziger Aufsatz dazu liegt auf Deutsch vor, verfasst von einem jungen Polen. Er erschien in einem Sammelband, herausgegeben vom früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker und dem früheren polnischen Außenminister Wladyslaw Bartoszewski, der selbst für einige Monate im Konzentrationslager Auschwitz I interniert war, bis die Deutschen ihn aus unbekannten Gründen freiließen. Neu an dem Geschichtsstreit dieser Tage aber ist, dass er erstmals auch Russland sowie die Ukraine betrifft.

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