Polen:Richter gegen Richter gegen Richter

Vera Jourova

EU-Vizepräsidentin Věra Jourová hat vergeblich versucht, im Justiz-Konflikt Warschau zum Einlenken zu bewegen. Die Kommission zeigt sich „sehr besorgt“ um die Rechtsstaatlichkeit in Polen.

(Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa)

Die Sorge um den Rechtsstaat wächst: Eine neue Volte bei der umstrittenen Justizreform der polnischen Regierung verschärft dramatisch den Konflikt zwischen Warschau und der Europäischen Union. Der Europarat will Polen unter gesonderte Beobachtung stellen.

Von Florian Hassel, Warschau

In Polen und Europa wächst nach einem Urteil des politisch kontrollierten Verfassungsgerichts die Sorge um das Schicksal des Rechtsstaats und der noch unabhängigen Richter in Polen. Auch ein Konflikt mit der Europäischen Union spitzt sich dramatisch zu. Das von der nationalpopulistischen Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) kontrollierte Verfassungsgericht erklärte, dass die Umsetzung eines Urteils des polnischen Obersten Gerichts (SN) und damit von EU-Recht ausgesetzt werde.

Die obersten Richter hatten am 23. Januar alle Urteile einer Disziplinarkammer am Obersten Gericht aufgehoben, die politisch kontrolliert ist, und deshalb für illegal erklärt worden war. Grundlage dafür war ein Urteil des Gerichtshofes der EU (EuGH). Diese Disziplinarkammer konnte praktisch jeden Richter, Staatsanwalt oder Anwalt entlassen. Auch Urteile einer von der Regierung kontrollierten Aufsichtskammer sind seitdem potenziell ungültig. Diese Kammer konnte jedes rechtskräftige Urteil des vergangenen Jahrzehnts aufheben und besteht ausschließlich aus Richtern, die seit 2018 ernannt wurden und faktisch von der Regierung abhängig sind. Zudem verbot der SN Dutzenden hohen Richtern, weitere Urteile zu fällen. Diese Richter wurden von einem bereits am 6. Dezember für illegal befundenen Landesjustizrat (KRS) ausgesucht. Dieser Landesjustizrat wird ebenfalls von der Regierung kontrolliert. Auch Hunderte Richter an allgemeinen Gerichten, die womöglich politisch abhängig ernannt worden sind, müssten überprüft werden.

Das Verfassungsgericht setzt das Urteil des Obersten Gerichts aus - zu Unrecht, sagen Experten

Doch das Verfassungsgericht (TK) setzte das Urteil der obersten Richter am Mittwoch aus - obwohl es dazu nach Ansicht von Rechtsexperten gar nicht befugt ist. Zudem stellen am TK Richter die Mehrheit, deren Status selber infrage steht: Drei Richter wurden 2015/2016 nach rechtswidrigen Verfahren anstelle noch unter der vorherigen Regierung legal gewählter Richter durchgesetzt. Weitere Richter wurden vom KRS ausgesucht, das ja für illegal erklärt worden ist. Zwei neue Verfassungsrichter, Stanisław Piotrowicz und Krystyna Pawłowicz, waren als Parlamentarier und im KRS seit 2015 maßgeblich an der Demontage des Rechtsstaats beteiligt, bevor sie vor Kurzem Verfassungsrichter wurden. Gerichtspräsidentin Julia Przyłębska wurde ebenfalls nach einem rechtswidrigen Verfahren ernannt.

Juristen wie Wojciech Górowski von der Warschauer Universität halten diese Richter des Verfassungsgerichts für "Nicht-Richter" und ihre Urteile für ungültig. Das Gleiche gilt für Polens Bürgerrechtskommissar Adam Bodnar, dem letzten unabhängigen Verfassungsorgan Polens. Bodnar erkennt seit Jahren kein Urteil mehr an, an dem etwa die 2015/16 rechtswidrig ernannten Doppelgänger-Richter beteiligt waren. Górowski erklärte, es sei höchste Zeit, dass Polens noch unabhängiges Oberstes Gericht eine offizielle Anfrage an den EuGH stelle, ob Polens Verfassungsgericht noch ein rechtmäßiges Gericht im Sinne der EU sei.

Christian Wigand, Sprecher der EU-Kommission, erklärte am 24. Januar: "Die Kommission ist sehr besorgt wegen der Rechtsstaatlichkeit in Polen. Die Unabhängigkeit und Legalität des Verfassungsgerichts wurden ernsthaft verletzt, das Gericht ist nicht in der Lage, eine ernsthafte Verfassungskontrolle zu gewährleisten." EU-Vizepräsidentin Věra Jourová versuchte vergeblich, Warschau in Gesprächen mit TK-Präsidentin Przyłębska und Justizminister-Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro zum Einlenken zu bewegen.

Der Europarat will Polen unter Sonderbeobachtung stellen - zum ersten Mal einen EU-Staat

Der Konflikt steuert nun auf einen neuen Höhepunkt zu. Bereits am 24. Januar beantragte die EU-Kommission beim EuGH, Polen per einstweiliger Verfügung jede weitere Tätigkeit der Disziplinarkammer unverzüglich zu verbieten und möglicherweise auch andere Maßnahmen zur Disziplinierung von Richtern für ungültig zu erklären.

Der Europarat will Polen unter Sonderbeobachtung stellen. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates stimmte am Dienstag für ein sogenanntes Monitoring-Verfahren für Polen. Bei dem soll grundlegend bewertet werden, ob Polens Institutionen noch funktionieren, und ob die Rechtsstaatlichkeit den Ansprüchen des Europarats genügen. Es ist das erste Mal, dass der Europarat ein solches Monitoring-Verfahren für einen EU-Staat eröffnet.

Polens Vize-Justizminister Sebastian Kaleta bekräftigte nach dem Urteil des Verfassungsgerichts, Richter, die sich stattdessen auf das Urteil des Obersten Gerichts berufen, würden mit Disziplinarverfahren überzogen. Diese Richter können sich allerdings vor europäischen Institutionen auf eben dieses Urteil, auf ein EuGH-Urteil vom 19. Dezember oder auf anderes EU-Recht berufen und die polnische Regierung verklagen, etwa vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

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