Dachau/München:Sieben Jahre Leiden

Immer wieder soll ein Mann aus dem Landkreis einen Buben aus der Nachbarschaft sexuell missbraucht haben. "Mindestens 418" Taten listet die Anklage am Landgericht München II auf. Das Urteil steht noch aus

Von Andreas Salch, Dachau/München

Ein Zufall brachte die Ermittler auf die Spur des Angeklagten. Er ist 42 Jahre alt und muss sich seit Freitag vor dem Landgericht München II verantworten. Die Vorwürfe sind gravierend: Von 1997 an soll der damals 19-Jährige einen Buben aus seiner Nachbarschaft bis 2004 immer wieder sexuell schwer missbraucht haben. Die Anzahl der Fälle, von denen die Staatsanwaltschaft ausgeht, klingt ungeheuerlich: 418, "mindestens". Zum Prozessauftakt räumte der Mann die sexuellen Übergriffe ein. Mit einer Einschränkung. Es seien nicht so viele Taten gewesen, wie man ihm zur Last lege, heißt es in einer Erklärung, die einer der beiden Verteidiger, Rechtsanwalt Philip Müller, verlas.

Das Opfer, das in dem Prozess als Nebenkläger auftritt, habe die Taten verdrängt gehabt, sagt dessen Anwalt. "War was?", habe ein Kripobeamter den inzwischen 28-Jährigen bei den Ermittlungen gefragt. "Nein", habe das Opfer erwidert, sich dann aber doch offenbart und von den Missbräuchen durch den Angeklagten aus dem Landkreis Dachau berichtet. Dass die Fahnder der Kripo auf den Mann aufmerksam wurden, ist allein der Aufmerksamkeit einer Frau geschuldet. Sie hatte beobachtet, wie zwei Buben im Alter von sieben, acht Jahren den 42-Jährigen nachts besuchten. Beiläufig erzählte sie der Mutter des heute 28-Jährigen davon. Diese soll sinngemäß geantwortet haben, dass auch ihr Sohn früher oft bei dem Mann gewesen sei und sie gar nicht wissen möchte, was die beiden alles miteinander gemacht haben. Nach außen hatte sich der Angeklagte dem Buben gegenüber großzügig gezeigt. Er unternahm mit ihm Ausflüge, sogar Reisen. Etwa ins Disneyland nach Paris oder nach Berlin. Unter anderem bei dieser Gelegenheit soll er sein Opfer im Zimmer eines Hotels am Kurfürstendamm schwer missbraucht haben. Besuchte der Junge den 42-Jährigen bei sich zuhause, solle er mit ihm vom Bett aus ferngesehen haben. Meistens sei die Serie "Die Simpsons" gelaufen. Dabei habe sich der Angeklagte regelmäßig dem Buben genähert.

Die Frau, die mit der Mutter des Opfers gesprochen hatte, hatte sich schließlich an einen Bekannten gewandt, der bei der Polizei ist. Dieser wiederum erzählte der Kripo von dem Gespräch der beiden Frauen. Der Mann wurde festgenommen und kam in Untersuchungshaft.

Das Opfer, so heißt es in der Anklage, habe sich nie gegen die sexuellen Handlungen zur Wehr gesetzt, da der Angeklagte "ein Vaterersatz" für ihn gewesen sei. Zudem soll der Angeklagte den Buben so beeinflusst haben, dass er glaubte, "dass die sexuellen Handlungen normal seien".

In der Erklärung, die der Verteidiger verlas, räumt der 42-Jährige nicht nur die Taten ein, sondern betont auch, dass er Verantwortung übernehmen wolle. An vieles könne er sich nicht mehr erinnern. In den 90er Jahren habe er bemerkt, dass er schwul sei, habe sich aber nicht outen können. Seine Mutter habe nur den Buben aus der Nachbarschaft als "ständigen Besuch akzeptiert". Irgendwann habe er "begonnen, sexuelles Interesse an ihm zu entwickeln". Seinem Opfer möchte er eine Aussage vor Gericht ersparen und 10 000 Euro als Täter-Opfer-Ausgleich bezahlen.

Bereits ab 2002, so der Angeklagte, habe er sich nicht mehr an dem Buben vergangen. 2006 habe er einen Mann kennengelernt, mit dem er inzwischen verheiratet ist. Auf Initiative der Verteidigung kam es zu einem Rechtsgespräch mit dem Gericht und der Vertreterin der Staatsanwaltschaft. Es führte zu keinem Ergebnis. Bei einer Verurteilung werde die Kammer eine Strafe "um die vier Jahre" verhängen, sagte Richterin Regina Holstein. Die Verteidiger sprachen sich für eine Haftstrafe zwischen zwei und vier Jahren aus. Für die Dauer der Vernehmung des Angeklagten wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Der Prozess wird fortgesetzt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: