Kirchseeon:Besuch in der WG der geheilten Suchtkranken

Kirchseeon: Eine ganz normale Wohnung für den Start in ein ganz normales Leben bietet das Condrobs-Projekt TWG.

Eine ganz normale Wohnung für den Start in ein ganz normales Leben bietet das Condrobs-Projekt TWG.

(Foto: Christian Endt)

Menschen, die früher alkohol- oder drogenabhängig waren, erhalten in Kirchseeon sozialpädagogische Hilfe. Das Problem: Es gibt zu wenige solcher Projekte.

Von Johanna Feckl, Kirchseeon

Als Tom S. nach 14 Monaten aus der Haft entlassen wurde, hatte er sich eines fest vorgenommen: Dieses Mal sollte es anders laufen. Der 53-Jährige wollte die Droge, die gut 25 Jahre in seinem Leben gewesen war, die ihn trotz mehrerer Entgiftungen immer wieder zurück in ihren Bann gezogen hatte, hinter sich lassen. Dieses Mal wollte S., der in Wahrheit anders heißt, dem Heroin keine Chance mehr geben, in sein Leben zu treten.

Aber wie sollte das funktionieren? Ohne Job. Ohne Wohnung. Ohne nennenswerte Beziehungen zu Menschen, die nicht im Drogenmilieu unterwegs waren. Kurz: Ohne Hilfe. Aber S. fand die Unterstützung, die er brauchte: Er zog nach Kirchseeon in die therapeutische Wohngemeinschaft (TWG) des gemeinnützigen Vereins Condrobs. Viele ehemalige Suchtkranke suchen nach der gleichen Hilfe wie Tom S. Doch nur wenige bekommen sie: Der Bedarf an Plätzen übersteigt die Zahl der vorhandenen um ein Vielfaches.

Es war 1971, als ein paar Fachkräfte zusammen mit Eltern, deren Kinder suchtkrank waren, Condrobs gründeten. Seitdem ist der Verein überwiegend in der Stadt München tätig, aber auch in der Region sowie vereinzelt in Franken. Das Spektrum an Hilfsangeboten ist ein breites: Psychosoziale Begleitung bei Substitutionstherapien. Beratungsstellen für Betroffene und Angehörige. Präventions- und Fortbildungen für Lehrkräfte, Erzieherinnen und Erzieher sowie Eltern. Oder eben therapeutische Wohnformen, wie die in Kirchseeon. Im Landkreis Ebersberg ist Condrobs seit knapp 30 Jahren, nach anderen Projekten gibt es seit 2012 nun die TWG. Ziel dieser Wohnform ist es, ein stabiles soziales Netz aufzubauen, um frühere Drogen- oder Alkoholabhängige bei einem Leben ohne Rausch zu unterstützen. Es ist die einzige Einrichtung dieser Art im Landkreis.

"Ich habe viele, wirklich viele Versuche gestartet, davon wegzukommen", sagt Tom S., der mehr als zwei Jahrzehnte von Heroin abhängig war. "Immer wieder." Und immer wieder ist S. rückfällig geworden. Jetzt sitzt der 53-Jährige am Küchentisch der Condrobs-WG in Kirchseeon. Seine langen Haare trägt er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein Blick ist freundlich. "In all den Jahren habe ich viel Elend gesehen - mein eigenes und das von anderen." Es scheint, als ob diese Zeit nun hinter S. liegt. Seit 2012 lebt er in der TWG. Clean ist er seit 2011, als ihn die Polizei mit fünf Gramm Heroin erwischte und ihn daraufhin ein kalter Entzug in Haft erwartete.

"Irgendwann habe ich dann angefangen, so richtig rumzuspinnen"

Das Konzept der TWG: Ehemalige Suchtkranke wohnen zusammen in einem Haus, jeder hat sein eigenes Zimmer angemietet. Die Bewohner müssen mindestens 21 Jahre alt sein, eine Entgiftung und eine Suchttherapie erfolgreich hinter sich gebracht haben sowie seit ungefähr drei bis sechs Monaten abstinent leben. Küche, Bad, Wohnzimmer und Garten werden von allen genutzt, wie in jeder anderen WG auch. In der Condrobs-WG gibt es aber noch Einrichtungsleiterin Ulrike Rietzschel und ihre Mitarbeiterin Judith Bergmann.

Kirchseeon: Andreas Schwabeneder, Ulrike Rietzschel und Judith Bergmann unterstützen ehemals Suchtkranke dabei, wieder drogenfrei und selbständig zu leben.

Andreas Schwabeneder, Ulrike Rietzschel und Judith Bergmann unterstützen ehemals Suchtkranke dabei, wieder drogenfrei und selbständig zu leben.

(Foto: Christian Endt)

Beide Frauen sind Pädagoginnen und helfen den aktuell drei Bewohnerinnen und neun Bewohnern im Alter zwischen 24 und 61 Jahren da, wo es nötig ist. Das können Anträge bei Krankenkassen oder andere Formularangelegenheiten sein. Oder der Aufbau neuer Routinen im Alltag. Aber auch, wenn der Drang nach dem alten Suchtmittel wieder auftaucht; Suchtdruck heißt das im Fachjargon. Und: In der TWG gibt es den Halt der Gruppe, von Gleichgesinnten.

"Hier bin ich nicht alleine."Das sagt Matthias B. Auch sein richtiger Name lautet eigentlich anders. Der 37-Jährige lebt seit 2015 hier. Seine Achillesferse ist der Alkohol. Wie die Sucht in sein Leben gelangte? Schleichend. Im Jugendalter fing alles an. Obwohl er Leistungssportler war. Die Mengen wurden immer mehr. Einfach so. Wie so oft. Mit 19 erwischte die Polizei ihn zum ersten Mal betrunken hinter dem Steuer. Sein Führerschein war weg, der Alkohol aber blieb. "Irgendwann habe ich dann angefangen, so richtig rumzuspinnen", sagt B. Gespenster seien vor seinen Augen aufgetaucht.

Er habe immer schlechter sehen können. Extreme Schweißausbrüche seien seine stetigen Begleiter geworden. Sieben bis zwölf Flaschen Bier nach der Arbeit waren normal. Bis er einen Autounfall hatte. Der Wendepunkt in seinem Leben. Das war 2013. B. begann eine Entgiftung, es folgten Reha und Therapie. Danach zog er zu Condrobs nach Kirchseeon. Er begann eine Umschulung, die er im Sommer erfolgreich abschloss. Und in diesem Februar, nach etwas mehr als fünf Jahren in der TWG, geht es für den 37-Jährigen weiter: Er zieht in eine eigene Wohnung.

"Oft haben sie versucht, es alleine zu schaffen"

Viele, die im Condrobs-Haus leben, haben zuvor Rückschläge erlebt, sagt Einrichtungsleiterin Rietzschel, alleine loszukommen von der Sucht. Manchmal gelingt das. Manchmal aber auch nicht. So oder so kommt der eigentliche Knackpunkt häufig erst nach einem erfolgreichen Entzug und einer Therapie - dann nämlich, wenn es wieder zurück in die eigene Wohnung geht: Das gewohnte Umfeld erinnert an Routinen von früher, an die Zeit, als die Sucht das Leben dominierte. Vielen wird diese Phase zum Verhängnis, wenn sie keine oder nicht ausreichend Hilfe erhalten: Sie werden rückfällig.

Bei B. war die ehemalige Routine "auf der Couch rumsitzen und saufen", sagt er. In dieses Muster nicht wieder zurückzufallen, wenn doch die Couch noch genau dieselbe wie vor Entgiftung und Therapie war, das konnte sich der 37-Jährige nicht vorstellen. Deshalb verließ er nicht nur das Sofa, sondern auch die Region, in der er lebte. Er kam nach Bayern, in die Kirchseeoner TWG. Im vergangenen Sommer hat B. seine Umschulung abgeschlossen. Auch in seinen alten Job wollte er nicht zurück. Zu hoch erschien ihm das Rückfallrisiko. Alles neu. Das bedeutet aber auch Stress. "Den habe ich ja jahrelang weggesoffen", sagt B. Es habe eine lange Zeit gebraucht, um sinnvolle Routinen aufzubauen, die das "Wegsaufen" ersetzt haben, sagt B.

Projekte, wie die TWG, können Betroffene dabei unterstützen, solche Strukturen zu gestalten. Dabei übernimmt der Bezirk im Rahmen einer Wiedereingliederungshilfe die Kosten für die sozialpädagogische Betreuung, die Mietkosten zahlen die Bewohner. Viele Betroffene wie Tom S. oder Matthias B. möchten die Hilfe der Kirchseeoner TWG in Anspruch nehmen, "aber wir haben gar nicht so viel Platz!", sagt Leiterin Rietzschel. 2018 gab es offiziell 49 Interessenten, im vergangenen Jahr 35. Die meisten wohnen zwischen sechs Monaten und zwei Jahren dort, manche auch länger. Wenn man wohlwollend rechnet, werden also in etwa zwei Zimmer pro Jahr frei. Zu wenig, um die Nachfrage abzudecken. Die Kapazitäten ausweiten? Prinzipiell gerne, sagt Andreas Schwabeneder, Leiter der Abteilung Sozialtherapie und Männerspezifische Hilfen bei Condrobs. Das Problem: Es fehlt an bezahlbarem Wohnraum.

Um dem großen Interesse zumindest etwas entgegenzusetzen, bietet der Verein ein Betreutes Einzelwohnen (BEW) an, auch in Kirchseeon: Aktuell erhalten hier zwei Frauen und zwei Männer, alles ehemalige Suchtkranke, eine sozialpädagogische Hilfe ähnlich der in der TWG, sie leben allerdings in einer eigenen Wohnung. Bald wird das auch bei Matthias B., der im Februar in seine eigene Wohnung zieht, so sein. Im Landkreis gibt es ein solches Angebot auch von der Caritas und den sozialpsychiatrischen Diensten (SPDI).

Zudem bietet der SPDI in Ebersberg eine Wohnform ähnlich der Condrobs-TWG an; dort liegt der Fokus aber auf psychische Erkrankungen in Kombination mit einer Sucht. Auf solche Fälle seien sie nicht ausgelegt, so Einrichtungsleiterin Rietzschel. Liegt eine psychische Erkrankung oder Suizidgefahr vor, oder ist der Betroffene pflegebedürftig, dann würde das eine andere, intensivere Form der Betreuung notwendig machen.

Rausgeworfen wird aus dem Condrobs-Haus freilich niemand, nur weil er schon länger als die obligatorischen sechs Monate bis zwei Jahre dort wohnt. Das beste Beispiel ist Tom S., den die Polizei mit Heroin erwischte. Er wohnt mittlerweile am längsten in der TGW, seit etwa sieben Jahren. Immer mal wieder denke er darüber nach, eine eigene Wohnung zu suchen, sagt er. Und lässt es dann bleiben. Zu groß scheint die Angst, dass es alleine nicht klappt. Dass die Sucht ohne das Netz der TWG zurückkehrt. "So lange ich hier bleiben kann, bleibe ich auch hier", sagt der 53-Jährige. Seit acht Jahren ist er clean. Das ist ihm nach seinen früheren Entgiftungen und Therapien nie gelungen. Damals lebte er nicht in einer TWG.

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