Traditionen:Abenteuerspielplatz für Politiker

REINHARD HÖPPNER KLEBT PLAKATE

„Was ist gut für unser Land?“ Reinhard Höppner (SPD) regierte Sachsen-Anhalt von 1994 bis 2002 als Chef einer Minderheitsregierung.

(Foto: DPA)

Warum Minderheitsregierungen in Deutschland so selten sind, in Skandinavien dagegen Alltag.

Von Jan Bielicki, Kai Strittmatter

"Wir waren die Ersten", sagt Rüdiger Fikentscher, hörbar stolz. 79 ist er inzwischen, bis vor einem halben Jahr saß der Sozialdemokrat noch im Stadtrat von Halle. Länger zurück liegt die Zeit, als er für ein politisches Projekt stand, das bundesweit Furore machte: Von 1994 bis 2002 war er als Fraktionschef der SPD in Sachsen-Anhalt einer der Steuerleute der umstrittensten und bei Weitem am längsten amtierenden Minderheitsregierung in einem deutschen Bundesland - bekannt und von vielen bekämpft als "Magdeburger Modell".

Minderheitsregierungen hatte es bis dahin in Deutschland zwar gegeben, aber nur, wenn eine Koalition zerbrach und die Regierungspartei sich bis zur Neuwahl oder in ein neues Bündnis schleppte. Was SPD und Grüne 1994 in Magdeburg machten, war unerhört neu: eine Minderheitsregierung von Anfang an. Die Idee entsprang dem Wahlergebnis und, so erinnert sich Fikentscher, einer "emotional geladenen" Atmosphäre. Die bis dahin regierende CDU hatte verloren, doch ein Mandat mehr als die SPD. Rot-Grün war zusammen stärker als die CDU, zu einer Mehrheit reichte es aber nicht, weil auch die PDS im Landtag saß - fünf Jahre nach dem Mauerfall als Nachfolger der DDR-Regimepartei SED "unberührbar", wie Fikentscher sagt. Doch der CDU in einer großen Koalition das Amt des Ministerpräsidenten überlassen? Ging "psychologisch" nicht, sagt Fikentscher, "wir hatten richtig Zorn auf die".

Die Landesverfassung bot eine Lösung. Im dritten Wahlgang genügte die einfache Mehrheit, um den SPD-Spitzenmann Reinhard Höppner zum Regierungschef zu wählen, aus der PDS kamen Enthaltungen und Ja-Stimmen. Dass Höppners Regierung sich die gesamte Wahlperiode stabil hielt, hatte für Fikentscher zwei Gründe: Es gab einen rot-grünen Koalitionsvertrag und so ein schriftliches Regierungsprogramm, dem die PDS folgen konnte. Und es gab "etwas ganz wichtiges: Personen, die sich fragen: Was ist gut für unser Land?" Fikentscher hebt den Grünen Hans-Jochen Tschiche hervor, der als prominenter Gegner des DDR-Regimes über jeden Verdacht erhaben war, wenn er mit der PDS sprach.

Am Ende des "Magdeburger Modells" stand eine gewaltige Wahlniederlage

Tschiche fehlte in Teil zwei des Magdeburger Minderheitsmodells. 1998 flogen seine Grünen aus dem Landtag, die SPD feierte einen Wahltriumph, nur für eine Landtagsmehrheit reichte es wieder nicht. Aber der CDU in einer großen Koalition Ministerposten abgeben? Hatte doch so gut funktioniert mit der Minderheitsregierung. Höppner machte weiter ohne Mehrheit, toleriert von der PDS. Doch es wurde schwieriger. Allein regierend, brauchte die SPD keinen Koalitionsvertrag, und so gab es kein Papier, auf das die PDS ihre Zustimmung stützen konnte. Alles musste mühsam ausgehandelt werden, der Charme des Modells verflog. Heute hält Fikentscher es für einen Fehler, dass die SPD nicht mit der CDU koalierte. Sie hielt vier Jahre durch - doch am Ende des Magdeburger Modells stand 2002 eine "schreckliche Wahlniederlage".

In Nordrhein-Westfalen war die Lage 2010 ähnlich und doch anders. Die schwarz-gelbe Regierung hatte die Wahl verloren, Rot-Grün aber fehlte ein Sitz zur Mehrheit, CDU und SPD lagen nach Mandaten gleichauf und politisch überkreuz. Sondierungsgespräche, die SPD und Grüne mit den Linken führten, scheiterten schon in der ersten Runde. Und in der FDP gab es keine Mehrheit für ein Ampelbündnis. Was folgte, war "kein Experiment, sondern ein Wagnis", sagt die grüne Spitzenfrau Sylvia Löhrmann, die sich als "Architektin der Minderheitsregierung" sieht. Die Grünen drängten, es zu versuchen, doch SPD-Chefin Hannelore Kraft ließ sich erst nach einigem Zögern zur Ministerpräsidentin ohne sichere Mehrheit wählen. Schließlich wäre ein Scheitern an ihr hängen geblieben.

Es klappte. "Schweißtreibend" sei es gewesen, aber es ist "sehr gut gegangen", erzählt der damalige SPD-Fraktionschef Norbert Römer. Rot-Grün regierte mit wechselnden Mehrheiten, schaffte mit den Linken Studiengebühren ab, stärkte mit der FDP die Finanzen verarmter Städte und kam mit der CDU zu einem Schulkonsens. Für Löhrmann war es ihre "schönste Zeit" in der Politik. "Es ging da mehr um Sachfragen als um Machtfragen", sagt sie über die Minderheitskonstellation, "denn wenn du da anfängst zu taktieren, ist es vorbei." Vorbei war es 2012, als ein Teilhaushalt im Landtag durchfiel. Bei der Neuwahl errang Rot-Grün eine eigene Mehrheit.

Ein Modell? "Es muss ein Spirit da sein, sich darauf einzulassen", sagt Löhrmann, doch der sei in Deutschlands politischer Kultur nicht vorgegeben. In Skandinavien dagegen sind Minderheitsregierungen die Regel. Norwegens konservative Ministerpräsidentin Erna Solberg etwa stand bis zum Januar einer Koalitionsregierung vor, die es tatsächlich geschafft hatte, für ein knappes Jahr die Mehrheit im Parlament zu vereinen - bis die rechte Fortschrittspartei vor zwei Wochen ihren Austritt erklärte. In anderen Ländern hätte das den Sturz der Regierung bedeutet. In Norwegen macht Solberg nach der ersten Aufregung einfach mit einer Minderheitsregierung weiter. Zurück zum Normalzustand quasi.

Nicht nur in Norwegen suchen Regierungen für ihre Projekte stets Unterstützung unter den Oppositionsparteien. In Dänemark regieren die Sozialdemokraten mit gerade mal 50 von 179 Sitzen im Parlament. In Schweden regiert eine Minderheitskoalition aus Sozialdemokraten und Grünen. Das ist in der Praxis nicht ganz so sprunghaft und flexibel, wie es klingt. Oft handeln die Regierungsparteien mit ihren Unterstützern aus der Opposition detaillierte Verträge aus, die fast an Koalitionsverträge erinnern. Bei einzelnen Projekten gibt es aber auch wechselnde Mehrheiten. Dieses Modell stützt sich auch auf eine Besonderheit im Norden, das System des "negativen Parlamentarismus". Eine Regierung stürzt erst dann, wenn eine absolute Mehrheit im Parlament gegen sie stimmt. Hinzu kommt die nordische Konsenskultur. "In Skandinavien haben wir klassische Kompromissgesellschaften", sagt der Berliner Skandinavist Bernd Henningsen: "Den Begriff 'fauler Kompromiss' gibt es nicht im Dänischen oder Schwedischen." Anders als in Deutschland mit seinen historischen Brüchen hätten die Bürger in Skandinavien zudem ein Grundvertrauen in ihre Regierung. "Den Regierenden dort wird nicht immer gleich unterstellt, sie führten Böses im Schilde", sagt Henningsen.

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