Gastbeitrag:Scheinheilige Gerechtigkeit

Eine Lotterie ist fair, weil jeder dieselbe Gewinnchance hat. Aber gilt das auch, wenn es es um Überlebenschancen geht?

Von Georg Marckmann

Grundsätzlich ist eine Lotterie ein faires Verfahren: Jeder bekommt die gleiche Chance, ein gewünschtes Gut zu erhalten. Gilt dies aber auch für lebenswichtige Medikamente? Der Pharmakonzern Novartis vertritt diese Auffassung und verloste jetzt 100 Behandlungen mit Zolgensma, einem neuen Medikament gegen die sonst tödlich verlaufende spinale Muskelatrophie (SMA) Typ I. Nach Auskunft von Novartis reichen die Produktionskapazitäten derzeit nicht aus, um den weltweiten Bedarf des Medikaments zu decken. Bisher ist es nur in den USA zugelassen und zu einem Preis von zwei Millionen Euro regulär verfügbar. Die Zulassung für den europäischen Markt wird in der ersten Hälfte dieses Jahres erwartet.

Was auf den ersten Blick wie ein fairer Umgang mit der Knappheit erscheint, überzeugt bei näherer ethischer Betrachtung nicht. Schließlich werden mit der Lotterie nicht Konsumgüter, sondern (Über-)Lebenschancen zugeteilt - und das sollte nicht dem Zufall überlassen bleiben. Im Gegenteil: Ein wesentliches Ziel öffentlicher Gesundheitsversorgung besteht gerade darin, die Nachteile der natürlichen und sozialen Lotterie auszugleichen, durch einen allgemeinen, gleichen Zugang zu Gesundheitsleistungen. Was aber vielleicht noch schwerer wiegt: Mit der Verlosung des Medikaments umgeht die Pharmafirma außerhalb der USA den üblichen Weg der Arzneimittelzulassung. Dabei werden die Medikamente vor der breiteren Anwendung an Patienten nach definierten Standards auf ihre Wirksamkeit und Sicherheit überprüft.

Auch bei Zolgensma sollte - im Interesse der betroffenen kleinen Patienten - von diesem etablierten Weg nicht abgewichen werden, zumal in Spinraza ein zugelassenes Medikament zur Behandlung der Muskelerkrankung verfügbar ist. Dieses muss jedoch wiederholt in den Rückenmarkskanal gegeben werden. Bisher wurden nur wenige Kinder mit Zolgensma behandelt, verlässliche Erkenntnisse über die längerfristige Wirkung liegen noch nicht vor. Das Medikament sollte deshalb zunächst von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) fertig geprüft und zugelassen werden. Anschließend müssen dann die Gesundheitssysteme mit dem Hersteller über einen angemessenen Preis verhandeln. Dabei könnte Novartis dann tatsächlich soziale Verantwortung übernehmen, indem die Firma sicherstellt, dass zeitnah ausreichende Produktionskapazitäten vorhanden sind und Zolgensma zu einem Preis abgegeben wird, der allen Patienten einen Zugang zu dem Medikament ermöglicht. Dies wäre ethisch weit überzeugender, als wenigen Patienten in einer PR-wirksamen, vermeintlich fairen Lotterie das Medikament kostenlos zur Verfügung zu stellen.

Ohne Zweifel hat Novartis für das Marketing seines Medikaments bereits einiges erreicht. Insbesondere die Eltern der an SMA erkrankten Kinder werden den Druck auf das Gesundheitswesen erhöhen und mit juristischer Hilfe versuchen, schnellen Zugang zu der Arznei zu erhalten. So verständlich dieses Bemühen aus Sicht der Eltern sein mag, ethisch angemessener wäre es, das Präparat im Rahmen einer Härtefallregelung jenen Kindern zu geben, bei denen besonderer Bedarf besteht: wenn etwa Spinraza nicht wirkt oder nicht vertragen wird. Nicht der Zufall, sondern die medizinische Dringlichkeit ist die Grundlage einer fairen Zuteilung von Lebenschancen.

Georg Marckmann ist Professor für Medizinethik an der LMU München.

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