Wissenschaft:Es muss nicht immer Englisch sein

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Deutsch als Wissenschaftssprache geht im Mainstream unter. Zeit für eine Umkehr.

Von Lidia Becker und Elvira Narvaja de Arnoux

Einmal wieder will die AfD "Deutsch als Wissenschaftssprache erhalten und stärken". Wie bereits in ihren Programmen zur Bundestags- und zur EU-Wahl beklagen die Rechtsnationalisten diesmal in einem Antrag an den Bundestag (vom 19. Dezember 2019), dass immer weniger Wissenschaftler Deutsch sprechen, immer weniger auf Deutsch publizieren. Das Deutsche, einst eine wichtige Lingua franca der Wissenschaft (eine Verkehrssprache für Forscher unterschiedlicher Sprachherkunft also), verliere in akademischen Milieus zunehmend an Bedeutung. Verdrängt werde es vom Englischen "durch die, bis heute ungebrochene Dominanz der angloamerikanischen Kultur weltweit".

Muss man das Thema ad acta legen, weil es von einer Partei mit rechtsnationaler Agenda aufgegriffen wird? Oder sollte man dem Reflex nachgeben, die entgegengesetzte Position zu beziehen - pro Englisch? Beides wäre falsch. Weder darf die Sorge um die deutsche Wissenschaftssprache der AfD überlassen werden, noch darf der verständliche Impuls, der AfD zu widersprechen, von einem ernstlichen Problem ablenken. Eine Sprachpolitik jenseits von rechts, jenseits stereotyper Reaktionsmuster ist in Deutschland dringend notwendig. Die Autorinnen dieses Artikels, beide Romanistinnen und Nicht-Muttersprachlerinnen des Deutschen, beobachten seit einiger Zeit eine Polarisierung in der Debatte über Sprachen im deutschen Bildungssystem. Auf der einen Seite die rechten Akteure, auf der anderen weite Kreise der Wissenschaft und Hochschulverwaltungen, die die Vormachtstellung des Englischen nicht kritisch hinterfragen. Hinter den Etiketten "Internationalisierung" und "Mehrsprachigkeit" verbirgt sich an deutschen Hochschulen heute ausnahmslos die Forderung nach "mehr Englisch".

Elvira Narvaja de Arnoux, 73, ist emeritierte Professorin für Interdisziplinäre Linguistik und Sprachsoziologie an der Universität Buenos Aires und Trägerin des Georg-Forster-Forschungspreis der Alexander von Humboldt-Stiftung. (Foto: privat)
Lidia Becker, 39, ist Professorin für Romanische Sprachwissenschaft an der Leibniz Universität Hannover. (Foto: privat)

Der systematische Transfer in einer Fremdsprache verflacht den wissenschaftlichen Diskurs

Vorträge, Tagungen, Förderanträge, ganze Studiengänge - das Vordringen des Englischen in der deutschen Wissenschaft ist unbestreitbar. 45 von 100 international relevanten naturwissenschaftlichen Publikationen weltweit waren 1920 auf Deutsch verfasst. 2005 waren es zwei. Diese Zahlen wurden wissenschaftlich erfasst; dass sie auch der AfD-Antrag zitiert, macht sie nicht falsch. Nur wie damit umgehen? Mit Sicherheit muss der kürzliche Aufruf des Wissenschaftsjournalisten Jan-Martin Wiarda zu mehr Gelassenheit in Fragen der Sprachenpolitik ("Englisch, so what?") als Reaktion auf die sprachpflegerischen Forderungen aus dem nationalistischen Lager verstanden werden. Warum nicht beliebig viele englischsprachige Bachelor-Studiengänge einrichten, wie es Bayerns Wissenschaftsminister jüngst angeregt hat? Wozu auf besorgte Germanisten und Germanistinnen hören, wenn die Englisch-Expansion doch die Tore zur Welt offenhalten soll und den lang ersehnten Traum einer perfekten Universalsprache zu erfüllen verspricht?

Noch eine Zahl (die nicht im AfD-Antrag steht): Laut Studien waren im letzten Jahrzehnt lediglich fünf Prozent sämtlicher Publikationen in den größten Zitationsindizes nicht in englischer Sprache. Der viel beschworenen "Mehrsprachigkeit" in der Wissenschaft spricht das Hohn. Und nicht nur in den Wissenschaften von Natur, Medizin, Technik und Wirtschaft, den naturwissenschaftlich orientierten Zweigen der Psychologie oder der Sprachwissenschaft, sondern auch in Sozialwissenschaften und sogar in Teilgebieten der Philosophie wird Englisch an deutschen Universitäten zur Sprache der Forschung und zunehmend auch der Lehre. Auf die Nachteile dabei wurde bereits mehrfach hingewiesen. So hat etwa der Chemnitzer Sprachwissenschaftler Winfried Thielmann unlängst dargelegt, dass ein systematischer Transfer neuer Erkenntnisse in einer Fremdsprache einfache Strukturen begünstigt und den wissenschaftlichen Diskurs verflacht.

Sehr aufschlussreich sind hierbei die Kritikpunkte, mit denen die lateinamerikanische Vereinigung für Linguistik und Philologie im Jahr 2017 die Reduktion einer pluralen internationalen Wissenschaftslandschaft auf den in den USA und Großbritannien vorherrschenden Mainstream verurteilt hat: Nur die englischsprachigen, vorwiegend von US-amerikanischen oder britischen Großverlagen betriebenen Zeitschriften, die durch die Zitationsindizes des US-Unternehmens Clarivate Analytics eine scheinbar objektive Legitimation erhalten, werden für "international" und "exzellent" erklärt. Die auf der Anzahl der Zitationen basierten Hochschulrankings privilegieren englischsprachige Universitäten in den USA, Großbritannien und Asien. Die Verdrängung von Nationalsprachen aus der hochkomplexen wissenschaftlichen Schriftlichkeit führt zum Verlust landeseigener Perspektiven in der Forschung.

Diese bittere Diagnose gilt selbstverständlich auch für Deutschland. Der Mehrheit der Studierenden hier werden grundständige englischsprachige Studiengänge kognitive und soziale Nachteile bringen. Denn während die Doktorandin ausgezeichnet Englisch können muss, um sich in der globalen scientific community zu behaupten, sollte der Abiturient auch ohne große Englischkenntnisse ein Studium aufnehmen können. Doch die deutsche Politik ignoriert diesen Unterschied. In Italien hingegen wurden - noch unter der sozialdemokratischen Gentiloni-Regierung - die ausschließlich in einer Fremdsprache angebotenen Studiengänge für verfassungswidrig erklärt. Und in Argentinien wird im Rahmen des linken Kirchnerismus seit Beginn dieses Jahrhunderts, zuletzt 2019, der Vorrang der regionalen Sprachen Spanisch und Portugiesisch im Universitätssystem festgeschrieben. Der in der Wahl von 2019 unterlegene neoliberale Ex-Präsident Mauricio Macri hatte hingegen flächendeckenden Englischunterricht "vom Kindergarten an" versprochen.

Das Deutsche muss wieder eine zentrale Rolle spielen und auch im Ausland gefördert werden

Genau diese neoliberale Begeisterung für die sprachlichen Erzeugnisse der "erfolgreichsten" Menschen dieses Planeten teilen die allermeisten Schul- und Hochschulleitungen in Deutschland. Dem sollte die Politik etwas entgegensetzen, und zwar weit über die bisherigen Lippenbekenntnisse zur Bedeutung des Deutschunterrichts, der Mehrsprachigkeit und der Herkunftssprachen hinaus. Das sprachpolitische Nichtstun muss ein Ende haben.

Die Wissenschaftslandschaft braucht eine gleichberechtigte Förderung mehrerer Sprachen. Nur so können innovative Ansätze jenseits des Mainstreams gedeihen. Nur eine mehrsprachige Wissenschaft mit vielen Zentren ist wirklich international. Damit die Weltwissenschaft plural bleibt, muss das Deutsche als eine der größten, traditionsreichsten Wissenschaftssprachen an deutschen Hochschulen eine zentrale Rolle spielen und auch im Ausland gefördert werden. Chauvinistische Argumente im Sinne der AfD, die Deutsch als eine für wissenschaftliche Zwecke am besten geeignete Sprache herausstellen und diese allen in Deutschland tätigen Wissenschaftlern aufzwingen wollen, müssen dabei entschieden zurückgewiesen werden.

An Schulen und Universitäten sollten daher die großen und kleinen Sprachen der Europäischen Union unterrichtet werden. Etliche davon werden auch in Deutschland gesprochen. Das Konzept der Europäischen Kommission, dass EU-Bürger sich in wenigstens zwei Sprachen neben ihrer Muttersprache verständigen können sollten, kann nur institutionell umgesetzt werden. Für eine auf Deutsch verfasste sozialwissenschaftliche Studie zu türkischsprachigen Gemeinden in Deutschland ist es sinnvoll, die Forschungsergebnisse zusätzlich auf Türkisch, Englisch und Französisch zusammenzufassen. Für solche Dienste können Universitäten Koordinationsstellen schaffen, der Aufwand für Übersetzungen wird dank neuester KI-gesteuerter Software geringer als noch vor zehn Jahren ausfallen. Sensibilisierungskampagnen wie "Wissenschaftlicher Terminus des Jahres", getragen von der Gesellschaft für deutsche Sprache, parallel zu "Wort des Jahres", und Veranstaltungen wie "Mathematik auf Deutsch im 21. Jahrhundert" an einem Standort des Goethe-Instituts wären weitere Möglichkeiten, die deutsche Wissenschaftssprache im Inland und Ausland sichtbar zu machen.

2016 studierten 57 Prozent der ausländischen Studierenden laut Deutschem Akademischen Austauschdienst (DAAD) "wegen und nicht trotz der deutschen Sprache" in Deutschland. Sie sollte man mit guten, kostenlosen Kursen für Deutsch als Fremdsprache unterstützen. Umgekehrt brauchen hiesige Wissenschaftler Kurse, um in mindestens zwei Fremdsprachen anspruchsvoll kommunizieren zu können, wenn ihre Publikationen auf Deutsch im Ausland stärker wahrgenommen werden sollen. Deutsch als Wissenschaftssprache und die Mehrsprachigkeit in der Wissenschaft sind also zwei Seiten einer Medaille, beide müssen "gerettet" werden. Dafür brauchen wir ein Zusammenspiel von Bundes- und Landespolitik und namhafter Institutionen wie der Gesellschaft für deutsche Sprache, dem Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, dem Goethe-Institut, dem DAAD, der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und so weiter. Machen wir uns auf den Weg - ohne die AfD.

© SZ vom 10.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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