Cytotec:Zur Geburt ein Magenmittel

Hebamme mit Säugling

Zahlreiche Kinder erlitten bei ihrer Geburt, die mit Cytotec eingeleitet wurde, Hirnschäden aufgrund von Sauerstoffmangel.

(Foto: dpa)

Wie kann das angehen? Warum dürfen Ärzte ein nicht für diesen Zweck zugelassenes Medikament verwenden? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Von Katrin Langhans

Cytotec ist ein Magenschutzmittel, das allerdings auch angewendet wird, um Geburten einzuleiten. Die Tablette ist dafür aber nicht vorgesehen und auch nicht zugelassen. In seltenen Fällen kann es zu schweren Komplikationen kommen, Mütter und Kinder sind im Zusammenhang mit der Gabe von Cytotec gestorben. Warum wird es dennoch verschrieben? Die Antworten zu den wichtigsten Fragen:

Was ist Cytotec?

Das Magenmedikament Cytotec wurden in den Achtzigerjahren entwickelt. In der Praxis hat man festgestellt, dass es auch die Gebärmutter anregt. Jede zweite Klinik in Deutschland verschreibt es einer Umfrage der Universität Lübeck zufolge, um Wehen bei der Geburt einzuleiten.

Werden Medikamente nicht normalerweise getestet?

Arzneimittel müssen in strengen Studien getestet werden, bevor sie auf dem Markt gelangen. Hersteller müssen in pharmakologischen und klinischen Versuchen nachweisen, wie ihr Mittel wirkt, und belegen, dass es ungefährlich ist. Vor der Zulassung wird geprüft, ob das Mittel Nebenwirkungen verursacht und ob diese im Vergleich zu seinem Nutzen vertretbar sind. Außerdem wird eine optimale Dosierung festgelegt. Cytotec hat all diese Studien nur für die Verwendung als Magenmittel durchlaufen, der Hersteller Pfizer sieht eine Verwendung in der Geburtshilfe nicht vor.

Was weiß man über die Wirksamkeit von Cytotec in der Geburtshilfe?

Bis heute liegen nicht genug Daten aus kontrollierten Studien vor, um die optimale Dosis bei größtmöglicher Sicherheit zu garantieren. "Jeder puzzelt so ein bisschen herum", sagt die Hebammenwissenschaftlerin Christiane Schwarz, die eine Umfrage zu Cytotec unter Hebammen gemacht hat. Mitunter würden Tabletten in der Praxis einfach zerteilt und der Frau mit einem Glas Wasser verabreicht. Dabei sei nicht klar, wie sich der Wirkstoff in der Tablette verteile. Ärzte orientieren sich bei Dosen und Zeitabständen an Erfahrungen und Anwendungsbeobachtungen. "Das sind keine sehr hohen wissenschaftlichen Evidenzen", sagt Professor Hitschold, der die Geburtsabteilung der Klinik Worms leitet.

Warum können Ärzte überhaupt ein Mittel in der Geburtshilfe verwenden, das gar nicht dafür zugelassen ist?

Man spricht von sogenanntem "Off-Label-Use": Denn innerhalb ihrer Therapiefreiheit können Ärzte Medikamente für eine Behandlung verschreiben, auch wenn sie für diese nicht ausdrücklich zugelassen sind. Ärzte müssen Patienten aber darüber aufklären, dass das Medikament keine Zulassung für die Therapie hat, und den Patienten über Risiken und Nebenwirkungen informieren. Der Off-Label-Use ist sinnvoll bei seltenen Krankheiten, bei denen es keine Behandlungsalternativen gibt.

Gibt es keine zugelassenen Medikamente zur Einleitung von Geburten?

Natürlich. Die Geburt kann zum Beispiel mit dem Wehentropfmittel Oxytocin eingeleitet werden oder mit einem Vaginalgel. Welches Mittel sinnvoll ist, hängt davon ab, wie weit die Geburt schon fortgeschritten ist. Generell gilt: Alle wehenfördernden Mittel haben schwere Nebenwirkungen. Bei zugelassenen Mitteln wurde aber in Zulassungsstudien geprüft, dass das sogenannte Nutzen-Risiko-Verhältnis positiv ist. Deswegen rät die Bundesbehörde für Arzneimittel und Medizinprodukte Ärzten auch, auf zugelassene Medikamente zurückzugreifen.

Warum nutzen Ärzte dann trotzdem ein Mittel, das nicht zugelassen ist?

Cytotec ist günstig, die Tablette kostet nur ein paar Cent, Alternativen liegen meist im dreistelligen Bereich. Ärzte argumentieren, dass es einfacher und angenehmer anzuwenden ist, weil man das Präparat schlucken kann. Einigen Untersuchungen zufolge muss seltener ein Kaiserschnitt gemacht werden, weil das Mittel sehr stark ist, kommt es oft schneller zu einer vaginalen Geburt. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt den Wirkstoff Misoprostol, allerdings nur in geringen Dosen von höchstens 25 Mikrogramm für die Geburtshilfe. Der Wirkstoff steckt auch in Cytotec. In der Praxis werden diese Dosen bei der Gabe von Cytotec mitunter um das Doppelte oder Vierfache überschritten. Ärzte berufen sich auf Erfahrungswerte. Es gab nie eine Zulassungsstudie von Cytotec für die Geburtshilfe.

Welche Risiken hat das Medikament?

Untersuchungen zeigen, dass es bei Cytotec häufiger zu einem Wehensturm kommt, das sind extrem dicht aufeinander folgende Wehen, die dazu führen können, dass das Kind nicht mehr genug mit Sauerstoff versorgt wird. Die französische Behörde ANSM schreibt, ein positives Nutzen-Risiko sei bis heute nicht belegt. Die amerikanische FDA warnt vor dem Risiko, dass die Gebärmutter reißen kann und dass Mutter und Kind sterben können.

Wie viele Kinder und Mütter sind bisher gestorben?

Das weiß man nicht. Frauen in den USA, auf den Bahamas, Dänemark, in Frankreich und Deutschland sind mit ihren Geschichten an die Öffentlichkeit gegangen, weil Mütter und Babys gestorben sind oder Kinder mit einem Hirnschaden zur Welt kamen. In Frankreich wird der Tod von drei Babys in Verbindung mit dem Medikament gebracht, in Deutschland sind Recherchen von SZ und BR zufolge eine Mutter und drei Babys, im Zusammenhang mit Cytotec gestorben. Zahlreiche Kinder erlitten bei ihrer Geburt, die mit Cytotec eingeleitet wurde, Hirnschäden aufgrund von Sauerstoffmangel.

Warum weiß man so wenig über die Todesfälle?

Ärzte melden Komplikationen nur selten. Sie sind nach dem Arzneimittelgesetz auch nicht dazu verpflichtet. Vor zwei Jahren ergab eine Umfrage der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, dass die Unicherheit über juristische Folgen zu den häufigsten Gründen zählt, weswegen Ärzte Komplikationen nicht melden. Im Off-Label-Use ist es besonders kompliziert. Wenn Ärzte Cytotec innerhalb der Therapiefreiheit verschreiben, haften sie. Sobald sie eine Nebenwirkung oder einen Todesfall melden, belasten sie sich selbst.

Können Patienten selbst Komplikationen melden?

Patienten können Nebenwirkungen selbst unter www.nebenwirkungen.pei.de melden. Mitarbeiter des Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte sowie des Paul-Ehrlich-Instituts sichten die Komplikationen, die Angaben fließen auch in die europäischen Nebenwirkungsdatenbank EudraVigilance ein, die alle gemeldeten Komplikationen in Verbindung mit Medikamenten in der EU sammelt.

Muss man den Zusammenhang mit dem Medikament belegen können?

Nein, für Ärzte und Patienten genügt der Verdacht, dass ein Medikament zu einem schweren Schaden geführt haben könnte. Bei Cytotec zählen beispielsweise der Wehensturm, der Gebärmutterriss oder die Geburt des Kindes unter Sauerstoffmangel zu Nebenwirkungen, die Ärzte und Patienten melden können.

Wer kann mir weiter helfen, wenn ich glaube, es gab ein Problem mit Cytotec?

Versicherte können sich an die Krankenkasse wenden.

Was sagt der Hersteller zu der Verwendung der Tabletten in der Geburtshilfe?

Der Hersteller Pfizer hat das Medikament Cytotec in Deutschland 2006 vom Markt genommen, weil es im Off-Label-Use verwendet wurde. Der Hersteller schreibt auf Anfrage von SZ und BR, es gebe bis heute keine ausreichenden Studien, die eine Anwendung zur Einleitung der Geburt rechtfertigen würden. Der Hersteller kann aber letzten Endes Ärzten die Therapiefreiheit nicht verbieten.

Trotz der im Text beschriebenen Risiken verteidigen Fachverbände und Geburtskliniken die Verwendung von Cytotec. Warum, lesen Sie hier:

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