Pop:Sendungsbewusstsein

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Um die Arbeit dieses Labels zu fassen, braucht es stabile Regale: Michael Reinboth blickt mit neuen Bands und Projekten in die Zukunft. (Foto: Compost)

Seit 25 Jahren liefert Michael Reinboths Label Compost Offenbarungen für den Dancefloor

Von Michael Zirnstein

Wäre das Label Compost Records ein Plattenladen, würden dort Club-DJs die Fächer nach Liebhaber-Vinyl durchblättern. "Ein wenig Nerdigkeit und Hipsterness" trage seinen Musikverlag durchaus, sagt der Chef Michael Reinboth. Als Reinboth 1994 erwog, ein Label zu gründen, schwebte ihm ein zeitloser Name vor, der zu technoider Musik und Dotcom-Ära passte. "Compost" gefiel ihm auch, weil der US-Autor Greil Marcus im Gegenkultur-Manifest "Lipstick Traces" geschrieben hatte, dass alle Künstler nach Dada auf einem großen Misthaufen sitzen, alle Bedeutung sich zersetzt und verbindet zu etwas Neuem, Düngenden. Darum ging es Reinboth: Er wollte "frisch klingende, elektronische, auf Samples basierende Musik" wie ein DJ kreativ zusammenstellen (lateinisch: componere). Mit dem Namen funkte es richtig, als eine Freundin vom amerikanischen Hexen-Treffen erzählte, der "Compost Convention", und davon, dass man im Mittelalter Gärgut Zauberkraft zusprach, weil das Methan darin bisweilen explodierte. "Kompost kann in die Luft fliegen - das war mein magischer Moment", so Reinboth in seiner Festschrift zum 25-jährigen Bestehen des Labels.

Im damaligen Nischenmarkt einer tiefschürfenden, quasi-spirituellen, im Jargon: "deepen" Club-, Lounge- und Loftmusik ging Compost tatsächlich durch die Decke. Die allererste Veröffentlichung, der housigen Maxi "Fresh In My Mind", wurde zum Untergrund-Schlager. DJs wie James Lavelle, UFO, Gilles Peterson oder Kyoto Jazz Massive verbreiteten sie auf den Tanzflächen der Welt. Eine Genugtuung, schließlich hatte Reinboth selbst die Nummer mit Jan Krause, Bernd Kunz und dem Schwarzwälder Rainer Trüby als A Forest Mighty Black zusammengelötet. Das Stück war - in einem Remix von I:Cube - freilich gesetzt für die auf 600 Stück limitierte Jubiläums-Box "25 Jahre Compost". Auf zehn 12-Zoll-Platten finden sich Dutzende weitere Label-Klassiker von Beanfield, Marsmobil, Trüby Trio, DJ Yellow und anderen, neu arrangiert von ebenso ruhmreichen Soundschraubern wie Recondite, Spiller oder Gerd Janson, um dem Label Tribut zu zollen. Ein Substrat aus 550 Alben und 10 000 Einzeltracks - und ein Wink in die weiter offene Zukunft. Aktuell gibt Compost wieder den Ton an - die Welle aktueller Veröffentlichungen von Web Web über Automat bis C.O.W. bedient den grassierenden Jazz-Durst der alten Hipster ebenso wie den Hunger der Youngster nach neuen heimlichen Helden.

Es fing als Ein-Mann-Betrieb in einem Wohnbüro an der Reichenbachstraße an. Szenestars wie Daft Punk oder DJ Shadow kamen vorbei, um Reinboths legendäre Sammlung mit 70 000 Platten zu bestaunen und Compost-Neuware von Beanfield, Fauna Flash oder Kruder & Dorfmeister durchzuhören - auf der Suche nach dem nächsten Suchtmittel zwischen Disco, Techno, House, Triphop, Balearen-Schwof und Kiffer-Downbeat. Die Renner waren die von Trüby kuratierte Brasil-Dance-Reihe "Glücklich" und Reinboths Zusammenstellung "Future Sounds of Jazz". Diese hatte nur vom Gefühl her etwas mit Live-Jazz zu tun, eigentlich versammelte sie programmierte Musik. Aber genau die sexy Lässigkeit in den von Reinboth erwählten Elektro-Stücken begründete ein eigenes, nun weltweit gefragtes Genre. München mit seiner Verwurzelung im Soul der amerikanischen GIs bot den Nährboden dafür.

Mit "Galicia" vom Trüby Trio kam man in die Dance Charts, Zwölf-Zöller von Jazzanova, DJ Linus oder Funkstörung verschickte man - heute unvorstellbar - etliche tausend Mal in alle Welt. Bei den eigenen, völlig überlaufenen Partyreihen wie "Into Somethin'" in München kamen bald nur noch Stammgäste am Türsteher vorbei. Beim ersten Compost-Gastspiel in New York lauschte als Gast der von Reinboth verehrte David Byrne dem Beanfield-Remix von Byrnes und Brian Enos Stück "Regiment". "Da hat mir echt das Herz gebumbert", sagt Reinboth. Dabei brachte er damals schon einiges an Erfahrung mit: Gründer des Musikmagazins Elaste mit seinen Klassenkameraden Steffen Seibert (heute Regierungssprecher) und Giovanni di Lorenzo (heute Zeit-Chef), Interviews als Musikjournalist mit Andy Warhol, den Rollings Stones, Kraftwerk und vielen anderen; Talent-Scout für Alfred Biolek in der Fernsehsendung "Bio's Bahnhof"; Veranstalter früher Hip-Hop-Events und szeniger Partys mit Überraschungsgästen wie Jamiroquai, DJ-Sets in P1, Tanzlokal Größenwahn, Ultraschall und wohl als erster Westdeutscher auf Plattenspielern des VEB Robotron in der DDR.

Dabei träumte Reinboth als Nichtmusiker davon, selbst Musik zu machen. Mit Compost immerhin nahm er Einfluss darauf, wozu gewippt wurde. Der britische Kollege Gilles Peterson - als Radio-DJ von BBC1 und Betreiber des Labels Acid Jazz eine Weltmacht - nannte Compost das "vorausblickendste Label Kontinental-Europas", dessentwegen die größten DJs der Welt nach Bayern blickten. "Diese Jungs bringen den Soul zurück." Reinboth habe all diesen Künstlern eine Plattform gegeben und das Gefühl, Teil von etwas Bedeutendem zu sein. Als andere Hipster-Labels wie Stereo Deluxe oder Mo Wax in der Digital-Krise strauchelten, landete auch Compost beinahe auf der Halde. Reinboth hielt durch. "Ob du Erfolg hast, zeigt sich nicht an einer Platte, die abgeht, sondern über die lange Distanz." Heute geht die Compost-Frucht wieder voll auf. Die Tänzer dürsteten seit einer Weile wieder nach Wärme und Menschlichkeit, sagt Reinboth, "das haben wir ja immer geboten". Stilprägende DJs wie Nicolas Jaar mixen gerade Worldmusic, Afro und Brasil in ihren House. Und Compost liefert. Zum Beispiel ein echtes Original: Mr. Raoul K, der von der Elfenbeinküste nach Norddeutschland zog, um als Schreiner und Fußballer zu arbeiten, kam gerade mit dem Album "African Paradigm" heraus - Afrobeats, live gespielte Afro-Instrumente, afrikanische Sängerinnen, afrikanischer Kampfgeist, sogar das LP-Cover ist in Stoffe aus Afrika gehüllt.

Mit den ehemaligen La Brass Banda-Mitgliedern Mario Schönhofer und Tobi Weber alias Ströme hat Reinboth auch ein Duo an Bord, dass an einem Modular-Synthesizer von der Größe einer Schrankwand Elektro-Konzerte auftürmt. Neulich in Berlin soll der Groove Wolfgang Flür von Kraftwerk und Anne Clark gepackt haben. Bloß scheiterte bisher jeder noch so teure Versuch, den Live-Ablauf auf Vinyl zu pressen. Jüngst spielten Ströme mit Andi Ypsilon von den Fanta 4 auf dem Uralt-Moog von Eberhard Schöner Stücke ein - halten sie aber noch unter Verschluss. Reinboth lässt nicht locker, so lange es auch dauert.

Endlich erschien auch das Debüt-Album von C.O.W.: "Internet", das vier vorher digital erschiene EPs vereint. C.O.W. sind sagenumwobene Elektro-Phantome aus München und angeblich Peking, die auch auftreten, sich aber hinter Pixel-Masken verstecken - ihre Gäste und Kollaborateure wie Jake Masca, Dexter oder Kid Simius sind dagegen weltweit renommierte Dance-Helden. Das Rätsel um die Identität von C.O.W. (man vermutet Mitglieder von Tribes of Jizu und Moop Mama), ihre Feminismus- und Klassenkampf-Attitüde und ihr Social-Media-Eifer bescheren Compost derzeit einen Haufen junger Fans. Es dürften noch mehr werden, zumal C.O.W. das Album der linken Hip-Hop-Stars Antilopen Gang produziert haben.

Eine Herzensangelegenheit sind für Reinboth die Routiniers, Gleichgesinnte seines Schlages. Mit dem Jazz-Keyboarder Roberto Di Gioia hat er auf Compost bereits Marsmobil gemacht. Jetzt bringt er das dritte Album von dessen Band Web Web mit der Gastsängerin Joy Denalane und dem Geiger Stefan Pintev heraus. Da ist er also, echter Live-Jazz. "Worshippers" huldigt im transzendierenden Miteinander den Größen der Zunft, dabei sind Di Gioia, Peter Gall, Tony Lakatos und Christian von Kaphengst selbst "alles Vollblut-Musiker", freut sich Reinboth.

"Supermusiker" mit nahezu "spiritueller" Ader sind auch der neueste Fang: Automat mit Jochen Arbeit, den man von den Einstürzenden Neubauten kennt, die anderen von Die Krupps oder Philipp Boas Voodooclub. Ihr viertes Album "Modul" kredenzt Dub und Techno, der mal nach Krautrock, mal nach Sixties-Folk ("Easy Riding") klingt, sehr lässig und doch im Fieberwahn, auch die New Yorker Spoken-Word-Fürstin Lydia Lunch mischt mit. Man ist vernetzt. "Die kamen auf mich zu", sagt Michael Reinboth stolz, Arbeit kannte Compost freilich und sogar sein Interview mit Blixa Bargeld in Elaste und seine Die-Haut-Plattenbesprechung im Musikexpress. Jetzt kommt alles zusammen, im Grunde ist Reinboth immer noch aufklärerisch unterwegs wie einst als Musikjournalist und DJ: "Ich will den Leuten zeigen, dass es nicht nur einen Style gibt. Das ist schon didaktisch, mein Sendungsbewusstsein, aber nicht priesterhaft."

© SZ vom 15.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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