Alben der Woche:Die Pforten der Coolness

Grimes macht auf "Miss Anthropocene" süßen Pop für das Algorithmuszeitalter, Ozzy Osbourne altert laut und possierlich und King Krule ist das Popereignis zum Brexit.

Von den SZ-Popkritikern

Purr - "Like New" (Anti)

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(Foto: Anti/Epitaph)

Man muss überhaupt nichts neu machen im Pop, um alles richtig zu machen. Den Beweis für diese Hypothese liefert einmal mehr ein Debütalbum aus New York. Es stammt vom Psych-Pop-Duo Purr und trägt den verschmitzten Titel "Like New" (Anti). Purr, das sind Eliza Callahan und Jack Staffen, zwei geborene New Yorker Anfang 20. Die beiden haben offensichtlich jede Menge The Shins gehört und ihr Harmonieverständnis an Shins-Kopf James Mercers melodischen Hakenschlägen geschult. Die zweite Pop-Regel, die Purr damit belegen lautet entsprechend: Wenn die Melodien stimmen, kommt man mit allem durch. Und wie die auf "Like New" stimmen! Die Wendungen in diesen Mid-Tempo-Indie-Schwofern sind fein gearbeitet und strahlen erhaben. Große Pophandwerkskunst - wie der famos fließende Refrain von "Gates Of Cool", in dem sich Callahans Stimme erst zu höchsten Tönen emporschwingt, dann in einen herzzerreißenden Dur-Moll-Wechsel kippt, nur um am Ende sanft auf einem lautmalerischen Ba-Ba-Ba-Bett zu landen. "I want to be here / The gates of cool / Will they receive me / or play the fool?" Die Pforten der Coolness sollten sich öffnen.

Ozzy Osbourne - "Ordinary Man" (Sony)

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(Foto: dpa)

Klar: Ozzy Osbourne war der Typ, der den Heavy Metal mitbegründete, als er sich Anfang der Siebziger mit den Kollegen von Black Sabbath die ganze tiefschwarze Wut von der rußigen Seele brüllte - düster, bösartig, jederzeit bereit, einen Hippie zu schächten. Auf der anderen Seite lebte dieser quartalsmäßige Schwerstsäufer und Großmaniker aber immer auch von einer fast welpenhaften Naivität. Mit "Ordinary Man", seinem neuen Solo-Album, ist er nun endgültig in die Phase des großen, kindlichen Staunens alter Männer eingetreten. Er beobachtet listig, wartet, lauert: Wo habe ich was zu sagen? Wo ist genug Platz? Und ansonsten bewundert er, was die anderen (unter anderem Duff McKagan und dessen Guns n' Roses-Kollege Slash oder der Red-Hot-Chili-Peppers-Drummer Chad Smith) so machen. Oft ist das etwas zu große Rock-Oper. Aufgeplusterte, alte Riffrock-Songs, gespielt mit den Produktionsmöglichkeiten von heute. Das geht ja selten gut und hier heißt es, dass man permanent gegen eine gigantische Wand, ach was, ein Bergmassiv aus Gitarren rennt. Überall Gitarren. Quasi alle im Klang zu Raupenpanzern hochkomprimiert und in wirklich jeder Beziehung absolut humorlos. Aber zwischendrin lugt immer wieder dieser Ozzy Osbourne hervor und erfreut sich am Spektakel. Guckt, staunt, befindet alles für laut genug und tritt wieder ab. Und das ist dann doch immerhin: sehr alterswürdig.

King Krule - "Man Alive!" (Young Turks/Xl/Beggars)

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(Foto: dpa)

King Krule ist das Popereignis zum Brexit. Er sieht ein wenig aus wie ein europahassender Malle-Tourist, der die Reservierhandtücher unschuldiger deutscher Urlauber von den Liegen am Swimmingpool klaut, und kündet auf dem Album mit breitgekifftem britischem Akzent davon, dass sein Fernseher mit ihm spricht. Erst 25 ist der Mann, wirkt lausbubenhaft genialisch wie eh, aber mit "Man Alive!" legt er schon sein drittes Album vor. Drängender als die Vorgänger, voll kratziger Klangwärme, jeder Song sorgfältig arrangiert. Es sind die Zutaten, aus denen Archy Ivan Marshall seinen unverwechselbaren Sound entwickelt hat: Jazz-Akkorde auf der Telecaster, schleppende Hip-Hop-Beats oder monotoner Post-Punk-Drive, etwas Noise. Dazu singt er wie nach sieben schlechten Nächte in schlechten Pubs mit schlechten Tom-Waits-Immitatoren. Weil er das aber zu verminderten Akkorden und mit viel Melancholie tut, geht es als Edgy Indie durch. Außerdem ist er seit Neuestem Papa. Deshalb ist die Musik noch reifer.

Agnes Obel - "Myopia" (Deutsche Grammophon)

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(Foto: Deutsche Grammophon)

Die in Berlin lebende dänische Künstlerin Agnes Obel ist für ihr neues Album "Myopia" (Deutsche Grammophon) vom Indie-Label PIAS zum Klassik-Label Deutsche Grammophon gewechselt. Was ein perfektes Spiegelbild ist für den Spannungsraum, in dem sich ihre Musik bewegt. Die flimmert schließlich zwischen der Gefühlsüberwältigung des Singer-Songwriter-Daseins und den zwar mühevoll konstruierten, aber oft etwas verschlafenen Klangwelten der Neuen Klassik, die in etwa so viel Aufregung sind wie Farbe, die langsam auf einer Leinwand trocknet. Auch "Myopia" geht in seinen schwächeren Momenten als gefällige Soundtapete für dramatische Serienmomente durch - nicht umsonst sind Agnes-Obel-Songs mittlerweile Stammgäste auf den Soundtracks der Großproduktionen von Netflix bis Amazon. In den besten Momenten allerdings, etwa auf Songs wie "Island Of Doom" oder "Can't Be", wirft Obel ihre wirklich außergewöhnliche Stimme gedoppelt, verfremdet und aufgetürmt gegen das in mehrere Lagen dämmende Steinwolle eingeschlagene Piano. Und verschmilzt das Beste aus zwei Welten.

DJ Diaki - "Balani Fou" (Nyege Nyege Tapes)

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(Foto: Nyege Nyege Tapes)

DJ Diaki aus Sanakoroba, einer Kleinstadt in der Nähe der malischen Hauptstadt Bamako, ist einer der Gründerväter von Balani Show, einer Spielart elektronischer Musik, die in den späten Neunzigerjahren in Mali entstanden ist. Balani-Show-DJs spielten Kassetten auf ihren Soundsystemen und mischten live Beats mit Hilfe von Drum-Pads und Drum-Computern dazu. Das ugandische Label Nyege Nyege Tapes, seit einigen Jahren Heimat für innovative elektronische Musik abseits der Clubkulturen des globalen Nordens, veröffentlicht nun Diakis neues Album "Balani Fou" (Nyege Nyege Tapes). Verrückter Balani, so nennt der DJ seine Musik, und so klingt sie auch: Tanzmusik in Höchstgeschwindigkeit. Die Drums krachen stoisch in atemberaubendem Tempo, Loops und Samples fliegen einem so schnell um die Ohren, dass man sie kaum wahrnehmen kann. "Balani Fou" fegt einem das Hirn leer und schafft einen dieser magischen Momente, nach denen man sich auf der Tanzfläche oft vergeblich sehnt: absolute Ruhe bei maximaler Ekstase.

Grimes - "Miss Anthropocene" (4AD/Beggars Group)

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(Foto: dpa)

Das öffentliche Bild der Kanadierin Claire Boucher - Musikerin, Social-Media-Slam-Poetin, Grafikdesignerin - wirkt oft so, als hätten ein paar besonders irre Instagram-Facefilter unter Manga-Einhorn-Playstation-Geheul ein ganzes Betriebssystem erobert. Die Musik auf ihrem lang erwarteten, fünften Grimes-Album mischt wieder süßen Pop, Clubsound-Krawall und Esoterik, geht aber einige Schritte weiter: "Miss Anthropocene" verhandelt die Digitalisierung der Kunst als Abenteuer, formuliert eine fantastische Vision davon, wie Pop im Zeitalter des Algorithmus klingen soll: assoziativ fließend, stets etwas unfertig, aber immer voll Herzblut. Die neueste Beta-Version einer erstaunlichen Karriere.

Lee Ranaldo & Raül Refree - "Names of North End Women" (Mute)

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(Foto: Mute)

Auf dem neuen Album Lee Ranaldos, das in Zusammenarbeit mit dem spanischen Produzenten Raül Refree entstanden ist, fehlt meist genau das, wofür der ehemalige Sonic-Youth-Gitarrist berühmt ist: Gitarren. Dafür gibt es auf "Names Of North End Women" (Mute) jede Menge Klänge aus dem musikalischen Geräteschuppen. Aufnahmen von knallenden Türen, zum Beispiel. Die hat Ranaldo - neben anderen Artefakten - auf alten Bändern gefunden und darum ein Album gebaut. Was nach langweilig-verkopfter Selbstmusealisierung eines alten Helden klingt, hat beim Hören doch einen ganz eigenen Reiz, weil "Names Of North End Women" neben all den Störgeräuschen, Field Recordings und Bandrauschen einen unbezwingbaren Willen zur Pop-Süße offenbart. Ranaldo und Refree verstehen ihre Songs dabei als Teamarbeit. In "Words Out Of The Haze" wird die Melodie wie ein Staffelholz weitergereicht. Erst wird sie von einer geklöppelten Marimba getragen, dann übernimmt der Sprechgesang von Ranaldo, der weiter gibt an eine der seltenen verzerrten E-Gitarren, bevor ein gesampleter Chor die Sache über die Ziellinie bringt. Das ist immer flüchtig und niemals konkret. Und trotzdem am Ende ganz schön Pop.

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(Foto: dpa)

Als hätten ein paar besonders irre Instagram-Facefilter unter Manga-Einhorn-Playstation-Geheul ein ganzes Betriebssystem erobert: Claire Boucher, besser bekannt als Grimes. Alle Folgen der Alben der Woche gibt es hier.

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