Leichtathletik:Schluss mit Zöpfen

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Mareen Kalis, 22, beendet ihre Karriere. Die deutschen Hallenmeisterschaften in Leipzig am Wochenende sollen die Abschiedsgala der 800-Meter-Läuferin sein.

Von Andreas Liebmann

Sie trägt ihre Haare offen. Das soll nun nicht das Letzte sein, was über die Sportlerin Mareen Kalis zu erzählen ist, trotzdem ist dieser Anblick ungewohnt. In jedem ihrer Rennen hat man sie an ihren blonden, geflochtenen Zöpfen erkannt. Ihr Markenzeichen, seit vielen Jahren. Mit ihnen ist die 800-Meter-Läuferin aus München dreimal Dritte bei deutschen Meisterschaften geworden, dreimal Staffelsiegerin, zweimal U-23-Meisterin; einmal Achte, einmal Siebte bei Nachwuchs-Weltmeisterschaften; Dritte bei den Olympischen Jugendspielen. Sie sind schon viel herumgekommen, sie und ihre Zöpfe.

Nun also schwingen die schulterlangen, blonden Haare ein wenig über dem grauen Sportshirt hin und her, während ihre Besitzerin kurz nachdenkt. Dann antwortet sie, dass sie nach diesem Wochenende vermutlich "eine Mischung aus Melancholie und Erleichterung" erfassen werde. Denn zumindest zu Wettkampfzwecken wird sie sich bei den deutschen Hallenmeisterschaften in Leipzig zum letzten Mal diese Zöpfe flechten. Mareen Kalis ist 22, und sie hat beschlossen, ihre Karriere zu beenden.

Die Frage nach dem Warum beantwortet sie ohne Zögern: "Mir fehlt tatsächlich ein Ziel für den Sommer", sagt sie. "Eins, für das es sich lohnt, weiter Leistungssport zu betreiben." Natürlich gibt es genügend Dinge, die sie noch nicht erreicht hat, aber wenn schon, dann müssten diese Ziele ja realistisch sein. Sie müsse daran glauben können. Vielleicht hat sie zuletzt einfach ein paarmal zu oft ihre Ziele verfehlt. "Im Nachhinein bin ich schon zufrieden mit den letzten vier Jahren - aber ich habe nicht das erreicht, was ich wollte."

Mareen Kalis' Abschied kam überraschend. Ihr Trainer Andreas Knauer könne es vielleicht geahnt haben, glaubt sie, "er hat eine sehr gute Menschenkenntnis". Nach und nach hat sie es den wichtigen Menschen in ihrem Umfeld erzählt. Es habe sich gut und richtig angefühlt, stellte sie fest. Mitte Januar habe sie ihre Entscheidung getroffen, während eines Trainingslagers in Monte Gordo, Portugal. Zunächst habe sie mit niemandem darüber gesprochen, ihre Trainingskolleginnen Christina Hering und Katharina Trost seien schließlich gerade "so super hochmotiviert" gewesen. Es ist ja Olympiajahr.

"Ich könnte meine Karriere als gescheitert betrachten, aber ich bin gut darin, das Gute zu sehen."

Stattdessen hat sie in Monte Gordo verkündet, dass sie in diesem Jahr in der Halle starten werde. "Eigentlich mag ich die Halle nicht", erklärt sie. Doch dahinter steckte ihre Idee, nicht einfach so leise abzutreten, dass es niemand bemerken würde, sondern sich ein echtes Abschiedsrennen zu gönnen. An diesem Wochenende in Leipzig. Ihr ehemaliger Trainer aus Paderborn will kommen, ihre Mutter, ihre Patentante. "Sie nimmt es selbst in die Hand", lobt Christian Gadenne. Er war noch nicht lange Geschäftsführer bei der LG Stadtwerke, als die junge Kalis damals nach München zog, im Herbst 2015 war das. Das verbinde sie. "Immer vorbildlich, nie verletzt" sei sie gewesen, sagt Gadenne, "sie wird uns sehr, sehr, sehr, fehlen."

„Eine Mischung aus Melancholie und Erleichterung“: Mareen Kalis wirkt vor ihrem Abschied fast so nachdenklich wie vor dem Start bei den deutschen Meisterschaften 2019 in Berlin. (Foto: imago images / Beautiful Sports)

Ihren Start am Wochenende hat sich Kalis hart erarbeiten müssen. Auf den letzten Drücker hat sie sich qualifiziert, vor zwei Wochen erst in Dortmund, in 2:08,00 Minuten. Am letzten Tag des Meldeschlusses. Ein Abschiedsrennen auf großer Bühne ist keine Selbstverständlichkeit.

Ihr Abschied verblüfft Außenstehende vielleicht auch deshalb, weil Mareen Kalis zuletzt Teil eines historischen Erfolgs war. Im vergangenen August bei den deutschen Meisterschaften in Berlin räumte ihre Trainingsgruppe alle Medaillen über 800 Meter ab. Nach einem beherzten Endspurt war Kalis Dritte hinter Hering und Trost. Doch auch dieses Rennen hängt ihr etwas nach. "Ich habe es taktisch schlau gemacht", sagt sie. Fünfte, Sechste sei sie gewesen, habe sich dann auf der Zielgeraden "irgendwie durchgewurschtelt". Danach aber habe sie sich irgendwann gefragt, was wohl gewesen wäre, wenn sie das Tempo der Führenden mitgegangen wäre. "Ich habe mich darauf konzentriert, Bronze zu holen, und nicht darauf, schnell zu laufen." Hering und Trost hatten weit vor allen anderen ihr eigenes Rennen ausgetragen. Und hinterher habe Mareen Kalis dann von Zuschauern gehört, dass man sie "gar nicht gesehen" habe in diesem Rennen.

Ihre starke Laufgruppe ist Fluch und Segen zugleich. "Am Anfang war ich total motiviert, wollte immer mitlaufen", erinnert sich Kalis. Später habe sie dann manchmal den Eindruck gehabt, dass es für sie vielleicht doch anstrengender ist als für die anderen, dass sie näher ans Limit gehen musste. Schon als Neunjährige ist sie die 800 Meter gelaufen, war früh erfolgreich in dieser Disziplin. Zehn deutsche Meistertitel hat sie gewonnen - drei davon mit der Staffel, die anderen in den Nachwuchsklassen bis zur U23. Vor allem anhand ihrer Zeiten stellt sie eine Stagnation fest. Ihre Karrierebestzeit von 2:03,53 Minuten stammt aus dem Sommer 2018. Nun zieht sie ihre Bilanz mit den Worten: "Ich bin halt so ein bisschen das Jugendtalent."

Die größten Erfolge mit 16, 17: Sie wisse selbst nicht, ob sie immer hundertprozentig alles versucht habe. Klar könne sie sich jetzt "noch mal auf den Kopf stellen" und zehn bis zwölf Mal pro Woche trainieren statt acht oder neun Mal, aber das machten die anderen auch nicht - und vielleicht sei ihr Körper auch gar nicht in der Lage dazu, noch schneller zu laufen. "Ich könnte meine Karriere jetzt als gescheitert betrachten", fügt sie nachdenklich an, "aber ich bin gut darin, das Gute zu sehen."

Mareen Kalis findet, sie habe es prima geschafft, "das Gleichgewicht" im Leben zu halten. Nun entscheide sie sich nicht gegen etwas - sondern für etwas anderes.

Man muss mehr als die Leistungssportlerin betrachten, um das zu verstehen. Ihr Abitur hat sie mit 1,0 abgeschlossen. Nach München kam sie, um Medizin zu studieren. 2018 hat sie das erste Staatsexamen gemeistert - in jenem Jahr also, mit dem sie am ehesten zufrieden war, in dem sie mit ihrer Bestzeit in Nürnberg sogar Katharina Trost schlug. Allmählich rückt das zweite Staatsexamen näher, auch das spielt eine Rolle. Sie weiß noch gar nicht, in welche Richtung sie sich beruflich spezialisieren will. Außerdem hat Mareen Kalis, geboren in Bielefeld, schon immer musiziert, Geige und Bratsche. In München war sie gut zwei Jahre mit dem renommierten Odeon-Jugendsinfonieorchester unterwegs. "Supercool" fand sie das. Immer wieder habe sie wohlmeinende Ratschläge gehört, dass sie sich entscheiden müsse, doch da war ja die Sache mit dem Gleichgewicht. Auch das fiel ihr in Monte Gordo auf: Dass ihr das gar nicht so wirklich liege, wenn - wie es Trainingslager nun mal mit sich bringen - zwischen dem Sport nichts passiert. Das sprach gegen ihre Professionalisierung.

Mit Katharina Trost (von links) und Christina Hering feierte Mareen Kalis bei der deutschen Meisterschaft 2019 einen Dreifachsieg. Und auch jetzt steckt sie noch einmal voller Tatendrang. (Foto: imago images / Beautiful Sports)

Letztlich habe sie trotzdem am meisten ins Laufen investiert. Das habe ihr Leben so strukturiert, wie es bei den meisten Kommilitonen wohl eher das Studium tut. Das wird sich nun ändern. In ein Loch aber kann die junge Frau gar nicht fallen. Sie habe ohnehin immer auch andere Sportarten geliebt, Surfen, Langlaufen, Mountainbiken, Wassersport. Mit etwas Glück bleibt am Ende sogar etwas Privatleben übrig, wie es andere führen, mit Reisen und Ausschlafen, solchen Dingen. Einem richtigen Studentensommer. Was sie zu ihrem Abschied sagt, klingt vermutlich sehr viel grüblerischer, als ihr tatsächlich zumute ist. "Ich bin echt gespannt", sagt sie grinsend, "ich habe jetzt viele Pläne."

Natürlich auch für Leipzig. Ins Finale am Sonntag will sie auf alle Fälle kommen. Bronze? Wäre natürlich das Größte, doch das Niveau der Konkurrenz ist gestiegen. Und nach einer Erkältung wisse sie gar nicht so genau, wo sie stehe. Vielleicht setze dieser Abschied ja noch einmal Kräfte frei, sagt sie, bei deutschen Meisterschaften sei sie ohnehin oft am besten gewesen.

Aus dem Traum von Olympia wird nun eben nichts, klar, aber so groß, sagt Mareen Kalis, finde sie diesen Reiz gar nicht. Auch das wurde ihr bewusst, als sie die anderen darüber reden hörte. Die Jugendspiele, 2014 in Nanjing, die seien toll gewesen, die Spiele der Großen drehten sich dagegen viel mehr um Professionalität, Vermarktung und Selbstdarstellung - und vor allem Letzteres könne sie nicht so gut.

Katharina Trost hat Kalis "den Ruhepol" des Teams genannt. Wahrscheinlich, weil sie auch den anderen gelegentlich dabei half, das Gute zu sehen, "etwas in ein anderes Licht zu rücken". Und Christina Hering sagt: "Manchmal hat sie uns gezeigt, dass es gut ist, nicht immer nur auf den Sport zu schauen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ohne sie wird."

Noch etwas will Kalis am Ende unbedingt loswerden: Sie würde das mit ihrem Sport "alles jedes Mal wieder genauso machen", betont sie. Die wöchentlichen Grilltreffen, die sie in der Gruppe etabliert hat, will sie weiterführen. Etwas anderes wird sich ändern: Für ihre Wettkampfzöpfe werden Hering und Trost künftig ganz allein verantwortlich sein. "Ich war nämlich hier auch jahrelang die Frisurbeauftragte."

© SZ vom 21.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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