Flüchtlingscamps:Verheerende Zustände an Europas Außengrenzen

Greece Migrants

Viele Kinder frieren in den heillos überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln und in Erdine, an der griechisch-türkischen Grenze.

(Foto: AP)

Heillos überfüllte Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln sollen Abschreckung signalisieren. Ein Mittel mit fragwürdiger Wirkung, das an Europas Werten zweifeln lässt.

Kommentar von Tobias Zick

Es werden derzeit reichlich Tränen vergossen am südöstlichen Rand der EU. Viele dieser Tränen werden hervorgerufen vom Tränengas, das die griechische Polizei in den vergangenen Tagen dort verschossen hat: am Mittwoch gegen Bewohner von Lesbos und Chios, die gegen Pläne für neue, geschlossene Flüchtlingslager auf ihren Inseln protestierten; am Wochenende dann gegen Tausende Flüchtlinge, die bei Edirne versuchten, aus der Türkei auf die griechische Seite der Grenze vorzudringen - ermutigt durch die Ankündigung des türkischen Präsidenten Erdogan, man werde jene, die Richtung EU ziehen, nicht mehr aufhalten.

Die Tränen der Kinder, die unterdessen in den heillos überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln frieren und von Flashbacks ihrer Kriegstraumata geschüttelt werden, spielen in der Debatte gerade kaum eine Rolle. Das Lager auf Samos ist für knapp 700 Menschen ausgelegt, inzwischen drängen sich mehr als zehnmal so viele dort. Sie campieren an den Hängen außerhalb des stacheldrahtumzäunten Areals, sie backen ihr Brot in Öfen, die sie sich selbst am Wegrand aus Lehm geformt haben. Auf die Chance, einen Arzt zu sehen, warten sie mitunter vergeblich. Die Zustände sind, auch im Vergleich mit Flüchtlingslagern auf anderen Kontinenten, verheerend.

Wer eines dieser Lager in der Ägais gesehen hat, kann sich des Eindrucks schwer erwehren, dass die erbärmlichen Verhältnisse dort Teil einer Abschreckungsstrategie sind: Es soll sich in der Türkei, in Syrien, in Afghanistan, in der Demokratischen Republik Kongo und in Kamerun bloß nicht herumsprechen, dass man als Geflüchteter auf europäischem Boden heutzutage noch irgend etwas Gutes zu erwarten hätte. Bleibt also lieber weg, in eurem eigenen Interesse, das ist die Botschaft, die diese Camps aussenden.

Nun ist Abschreckung gegenüber Menschen, die vor Krieg und Terror flüchten, ein Mittel von fragwürdiger Wirkung. Der allergrößte Teil der Geflüchteten, die heute auf Samos vegetieren, das zeigen die Erhebungen des UN-Flüchtlingshilfswerks, kommen aus akuten Konfliktregionen; man kann ihnen also schwerlich vorwerfen, sie seien bloß "Wirtschaftsflüchtlinge", die den Europäern ein bisschen was von deren Wohlstands-Kuchen abschneiden wollten. Hinzu kommt, dass der türkische Präsident Erdogan die Flüchtlinge nun verstärkt als Druckmittel einsetzt, um die EU-Länder dazu zu zwingen, seine Position im Syrien-Krieg zu stärken.

Die Zustände am südöstlichen Rand der EU sind mit ihren Werten nicht zu vereinbaren

Die eine Seite instrumentalisiert die Geflüchteten als Hebel zur Durchsetzung eigener geostrategischer Interessen, die andere Seite versucht sie sich mit ähnlicher Entschlossenheit vom Leib zu halten, als handle es um ein neuartiges, schwer ansteckendes Virus. Dass es um Menschen geht, die in akuter Not sind, spielt beim derzeitigen politischen Kräftemessen kaum noch eine Rolle.

Die EU solle nur noch Menschen Zuflucht gewähren, wenn diese sich ausdrücklich zu "europäischen Werten" bekennen: So lautete ein Vorschlag von Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz zum Auftakt seiner EU-Ratspräsidentschaft 2018. Sind sich die Europäer heute selbst überhaupt darüber einig, worin ihre Werte genau bestehen? Die Zustände am südöstlichen Rand der EU wecken Zweifel daran.

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