Prozess in Würzburg:Martyrium in der Kita

Prozess wegen Kindesmissbrauch

Den Sprachtherapeuten, der sich vor dem Landgericht Würzburg unter anderem wegen Vergewaltigung verantworten muss, beschreiben Eltern in den betroffenen Kindertagesstätten als besonders sensitiven, einfühlsamen jungen Mann. Ermittlungen zu Kinderpornografie führten zu dem 38-Jährigen.

(Foto: dpa)
  • Ein wegen schweren sexuellen Missbrauchs behinderter Jungen in Würzburg angeklagter Mann hat die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft umfangreich eingeräumt.
  • Die Aussage des 38-Jährigen fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt - zum Schutz der mutmaßlichen Opfer und des Angeklagten.
  • Der Logopäde soll von 2008 an bis zu seiner Festnahme im März 2019 sieben Jungen in seinen Praxen und bei Therapiestunden in zwei Kindergärten sexuell missbraucht haben, in 66 Fällen davon schwer.

Von Olaf Przybilla, Würzburg

Etwa drei Meter sitzt die Mutter von dem Mann entfernt, der ihren schwerbehinderten Sohn sexuell missbraucht haben soll. Manchmal vergräbt sie ihre Hände im Gesicht, die meiste Zeit aber versucht sie, den Logopäden mit ihren Augen zu fixieren. So als suche sie Antworten darauf, wie einer ist, der zu so etwas in der Lage sein soll. Der Sprachtherapeut muss sich seit Donnerstag wegen schweren sexuellen Missbrauchs, der Verbreitung kinderpornografischer Schriften und Vergewaltigung am Landgericht Würzburg verantworten. Er sollte sieben zum Teil schwer behinderten Buben beim Spracherwerb helfen, in seiner eigenen Praxis und zwei Würzburger Kindertagesstätten. Stattdessen hat er sich laut Anklage über Jahre an ihnen vergangen, hat seine Taten fotografiert und gefilmt und das Material im Darknet, dem nicht öffentlich zugänglichen Teil des Internets, verbreitet.

Dies ist ein besonderer Prozess. Das Schutzbedürfnis der Buben, die zum Zeitpunkt der angeklagten Taten zwischen zwei und sechs Jahre alt waren, ist umfassender kaum denkbar. Und so muss die Öffentlichkeit selbst bei der Verlesung von Neben-Anträgen den Saal verlassen, auch die Anklageverlesung ist nicht öffentlich. Aus erster Hand wird man also wenig erfahren über diesen Prozess, der bis April terminiert ist. Was aber in der Mutter vorgeht, die da schräg hinter dem Angeklagten Platz genommen hat, darüber gibt ihr Anwalt vor dem Gerichtssaal einen Einblick.

Seine Mandantin "möchte Gerechtigkeit", sagt Bernhard Löwenberg. Sie möchte, dass "der Angeklagte nie wieder rauskommt". Die Bilder, die sichergestellt wurden, erinnerten sie "an den schlimmsten Porno". Nur dass in solchen Filmen einvernehmliche Handlungen zu sehen sind. Hierbei aber gehe es um sexuellen Missbrauch unter Zuhilfenahme von Gewalt an behinderten Schutzbefohlenen. Die Mutter habe "keine Worte dafür", was sie fühle, seit ihr vor etwa einem Jahr mitgeteilt wurde, dass auch ihr Bub betroffen ist. "Das ist wie tot sein", habe die Mutter gesagt.

Es ist nicht ganz einfach, über diesen Fall zu berichten - Details der Anklage haben in einer Zeitung nichts verloren. Eltern haben ihre Buben in die Obhut eines Mannes gegeben, weil sie sich Hilfe erhofften. Für einen Buben zum Beispiel, der geistig und körperlich behindert ist, nicht sprechen kann und dessen Entwicklungsstand dem eines anderthalb Jahre alten Kindes entspricht. Oder einem Buben, der an einer Netzhauterkrankung leidet, ein Restsehvermögen von drei Prozent besitzt und nur einzelne Worte sprechen kann. Auch einem Buben, der unter einem seltenen Gendefekt und an einer Spracherwerbsstörung leidet und nicht in der Lage ist, sich über seine Erlebnisse zu äußern oder seine Gefühle zu zeigen. Sowie einem Buben, der sich grundsätzlich nur mit einzelnen Tönen oder Lauten verständigen kann.

Was diesen Menschen widerfahren ist? Es geht, so viel kann man sagen, um dutzendfachen schweren sexuellen Missbrauch. Und es geht um Vergewaltigung. Gegenstände spielen in dieser Anklageschrift eine tragende Rolle, von "Stoffschlangen" ist die Rede, von "weißen Plastiklöffeln", einem "abgerundeten Holzstock"; und von einer Styroporwippe eines schwedischen Möbelherstellers, auf der sich manche der Taten zugetragen haben sollen. Auf 27 Seiten Anklageschrift sind die Taten ausgebreitet. Anhand der Bilder und zum Teil minutenlangen Videoaufnahmen ist offenbar zu erkennen, welches Martyrium die Buben durchlebt haben müssen; und sich vergebens gewehrt haben dagegen. Immer wieder führt die Anklageschrift auf, wie den Kindern die Hände festgehalten wurden, wie sie wimmernd versuchten, Gegenwehr zu leisten. Schon die Lektüre ist kaum zu ertragen.

Vom Angeklagten - kurze Haare, kariertes Hemd, bleicher Teint - ist am ersten Verhandlungstag nicht viel zu hören. Als er seine Personalien angibt, spricht er leise, behutsam. In etwa so haben ihn Eltern in den betroffenen Kitas geschildert. Ein besonders sensitiver junger Mann, einfühlsam. Einer, dem man vertraut, und der als Therapeut preisgekrönt war. Wie sein Ton gehalten war, mit dem er für sich selbst und seine Arbeit warb, kann man noch anhand von Dokumenten erahnen. Seine Förderung, macht er da für sich Reklame, ermögliche "ein bewegtes Lernen mit allen Sinnen". Er mache sich mit den Kindern auf den Weg "in das freie, ungezwungene, kindliche Spiel" und lausche dabei den Geschichten der Kinder, die "sich nicht immer über das gesprochene Wort offenbaren - sondern viel mehr über den Körper".

Am Nachmittag legt der Angeklagte ein umfassendes Geständnis ab, sämtliche Anklagepunkte räumt er ein. Nach Angaben eines Gerichtssprechers habe er dabei "unter Tränen" ausgesagt, heute zu verstehen, wie viel Vertrauen er missbraucht habe. Bei der Anklageverlesung am Vormittag habe der 38-Jährige dagegen "keine besonderen Gefühlsregungen gezeigt".

Wie es in einer Kita überhaupt möglich sein konnte, dass ein Mensch so etwas getan haben soll? Die Ermittler gehen davon aus, dass der Logopäde hauptsächlich während des Morgenkreises, als Erzieher mit anderen Kinder beisammen waren, mit seinen Therapiekindern alleine war. Er begab sich dazu in einen Holzeinbau der Kita, der gegen Einblicke geschützt ist. Auf die Spur gerieten die Ermittler dem 38-Jährigen bei Ermittlungen wegen Kinderpornografie in Niedersachsen. Eine der Spuren führte nach Würzburg. Längst hat der Fall eine internationale Dimension. Nach Angaben der Generalstaatsanwaltschaft sind Zehntausende Bilder sichergestellt worden - und nur zu einem Bruchteil sollen sie von dem 38-Jährigen stammen. Inzwischen wurden 42 weitere Verdächtige ermittelt.

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