Griechenland:Die Hölle auf Lesbos

Griechenland: Vom Kriegsgebiet nach Europa: Kinder im griechischen Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.

Vom Kriegsgebiet nach Europa: Kinder im griechischen Flüchtlingslager Moria auf Lesbos.

(Foto: Lousia Gouliamaki/AFP)
  • Viele Bewohner auf Lesbos befürchten, dass ihre Insel dauerhaft zum Abladeplatz für die Athener und Brüsseler Migrationspolitik gemacht wird.
  • Einige selbst ernannte Bürgerwehren gehen mit Gewalt gegen Flüchtlingshelfer vor.
  • Auch eine Gruppe deutscher Neonazis wird auf Lesbos gesichtet.

Von Tobias Zick, Mytilini

Saleem al-Azawi, 23, war das perfekte Ziel für die Angreifer. Er ist Flüchtling, und er ist Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. Zwei Feindbilder in einem also für den rechten Mob, der am Sonntag die griechische Insel Lesbos am Südostrand der Europäischen Union in den Würgegriff genommen hat.

Azawi sitzt vor Pizzaresten und einem fast leeren Bierkrug in einem Bistro am Rand des Hafens von Mytilini. Ein junger Mann aus der Gegend des antiken Babylon, Irak, mit Spitzbart, Fellkragen. Er spricht exzellentes Englisch. Er erzählt, wie er zusammen mit seinem norwegischen Kollegen in die tobende, prügelnde Menge geriet und sich aus ihr gerade noch herauswinden konnte. Es war Sonntagnachmittag, sie verteilten gerade im Flüchtlingslager von Moria Spenden, Schuhe, Kleider, da bekam sein Kollege auf dem Handy eine Nachricht: Unten an der Straße gebe es Probleme, eine so genannte Bürgerwehr habe Barrieren errichtet, prügle auf Autos samt Insassen ein, die irgendwie nach NGO aussehen; die englische Abkürzung für Nichtregierungsorganisationen, die drei Buchstaben sind plötzlich zur Chiffre des Hasses geworden.

Der norwegische Kollege, der neben Azawi sitzt, und er stiegen an jenem Sonntagnachmittag ins Auto, wie sie erzählen, nahmen die Nebenstraße ums Camp herum, fuhren an der Rückseite des Hügels zurück Richtung Stadt, der Weg dürfte sicher sein, dachten sie. Unten an der Küstenstraße sahen sie geparkte Autos, Menschen, Dutzende, "bestimmt mehr als hundert", sagt Saleem al-Azawi und rollt eine Zigarette zwischen den Fingern. "Die meisten von ihnen waren vermummt, sie hatten schwarze Masken vor den Gesichtern." Die Männer, nein, "es waren gar nicht so wenige Frauen darunter", sagt er, stoppten das Auto, zerrten die beiden heraus, prügelten auf sie ein. "Fuck you, riefen sie immer wieder, verschwindet von hier." Ein Polizist habe lediglich zugeschaut. Saleem al-Azawi riss sich los, wurde gepackt, zu Boden geworfen, verprügelt, riss sich abermals los und rannte durch die Dunkelheit in die Stadt.

Griechenland: Ziel für Angreifer: Saleem al-Azawi.

Ziel für Angreifer: Saleem al-Azawi.

(Foto: Tobias Zick)

Donnerstagnachmittag, Nieselregen über dem Hafen von Mytilini, Lesbos. Eine Stadt, wie verkatert nach einem üblen Traum. Kurz nachdem in der benachbarten Türkei am Freitag vergangener Woche der dortige Präsident Recep Tayyip Erdoğan verkündet hatte, er werde Flüchtlinge, die Richtung Europa wollen, nicht länger aufhalten, brach über Lesbos die Hölle herein. Schlägertrupps blockierten Straßen, griffen Mitarbeiter von Organisationen wie dem UN-Flüchtlingshilfswerk und Ärzte ohne Grenzen an, hinderten ein Schlauchboot voller Migranten am Anlegen. Ein stillgelegtes Transitlager, das die Vereinten Nationen demnächst wieder in Betrieb nehmen wollten, ging in Flammen auf. Erdoğans Grenzöffnung war der Funke an einem prall gefüllten Sprengsatz.

"Viele Leute glauben der Regierung in Athen nichts mehr"

Moria, das berüchtigte Flüchtlingslager auf der Ägäisinsel, ist offiziell für 2000 Menschen vorgesehen; heute vegetieren darin etwa 19 000, beziehungsweise auf den Olivenhainen ringsum. Um Ordnung zu schaffen, beschloss die Regierung in Athen, auf Lesbos und den Nachbarinseln neue, geschlossene Lager zu bauen. Gegen die Pläne protestierten vorige Woche Tausende Inselbewohner - quer durchs politische Spektrum: die einen, weil sie geschlossene Lager als menschenunwürdig ablehnen, die anderen, weil sie der Regierung nicht trauen, wenn diese sagt, das bisherige Lager werde im Gegenzug geschlossen. Sie befürchten, dass ihre Insel dauerhaft zum Abladeplatz für die Athener und Brüsseler Migrationspolitik gemacht wird. "Das Misstrauen war in den vergangenen Jahren ohnehin schon enorm gewachsen", sagt Nikolaos Xypolitas, Soziologie-Professor an der Ägäis-Universität in Mytilini, schwarzer Rolli, ovale Brillengläser, Vollbart. "Viele Leute glauben der Regierung in Athen nichts mehr."

Die Regierung schickte Polizeiverstärkung vom Festland, Spezialeinheiten für Aufstandsbekämpfung. Steinbrocken flogen, Tränengasgranaten. Um die Lage zu entspannen, beschloss die Regierung, die Spezialeinheiten abzuziehen. Und die Pläne für die neuen Lager noch einmal zur Debatte zu stellen. "Da haben sich diese Leute hier wie die Könige gefühlt", sagt Xypolitas, "sie hatten ja gewonnen. Dann dachten sie sich: Jetzt können wir alles machen, was wir wollen; als Nächstes nehmen wir die Hilfsorganisationen ins Visier." Und dann kam der Moment, als der türkische Präsident die Grenzen zur EU für geöffnet erklärte - "das war der Auslöser für diese Leute, vollends in den Faschismusmodus zu wechseln."

Der Weg zum Flüchtlingscamp ist am Donnerstag wieder offen, die selbst ernannten Bürgerwehren haben ihre Checkpoints geräumt. Vorerst zumindest. Im Bett des Baches, der sich außen am Stacheldrahtzaun des offiziellen Camps entlang schlängelt, türmt sich der Müll, Zelte drängen sich aneinander, Menschen tapsen über den matschigen Pfad, in der Nacht hat es in Strömen geregnet. In einem der Zelte wohnt Haifa Muhammad mit ihrem Mann und drei Kindern, sie sind seit drei Monaten hier. "Das ist hier kein Leben für Menschen", sagt sie. "Das ist ein Leben für Tiere."

"Wir haben Angst", sagt Haifa Muhammad. "Wir kommen bereits aus einem Kriegsgebiet"

Die Familie stammt aus Deir-al-Sur im Osten Syriens. Nachdem der Mann von der syrischen Armee desertiert war, lebten sie in Idlib, dem Rebellengebiet, das in jüngster Zeit immer wieder von syrischen und russischen Jets bombardiert wurde. Sie flüchteten in die Türkei, vor drei Monaten stiegen sie in der Nähe von Izmir auf ein Schlauchboot, zusammen mit drei Dutzend anderen Menschen. Für die Passage nach Griechenland zahlten sie insgesamt 3000 Dollar.

Haifa Muhammad müht sich, inmitten des Chaos und Schmutzes, in dem sie jetzt vegetieren muss, so viel Ordnung und Lebenssinn wie möglich zu erhalten. Drinnen, in dem mit einem Vorhang abgetrennten Teil ihres Zeltes, den sie das "Schlafzimmer" nennen, hat sie Schulhefte und ein Malbuch auf dem Boden ausgebreitet. Sie unterrichtet ihre Kinder jeden Tag in Arabisch und Englisch, eine Schule gibt es schließlich nicht. Bis vorige Woche fuhr die Familie hin und wieder mit dem Bus in die Stadt, seit Sonntag tut sie das nicht mehr. "Wir haben Angst", sagt Haifa Muhammad. "Wir kommen bereits aus einem Kriegsgebiet."

"Lesbos, die Insel der Solidarität. Und in einer Nacht haben wir alles kaputt geschlagen"

Die Ärzte ohne Grenzen haben an diesem Tag ihre Krankenstation am Rand des Camps geöffnet, nachdem sie zwei Tage geschlossen war, aus Sicherheitsgründen. Für viele ist es die einzige Anlaufstelle, um medizinisch versorgt zu werden, seit Flüchtlingen keine Sozialversicherungsnummer mehr erteilt wird. Andere Hilfsprojekte liegen brach, viele Helfer haben nach den Krawallen die Insel verlassen.

Michalis Aivaliotis, Lehrer und Gründer einer einheimischen Hilfsorganisation namens "Stand By Me Lesbos", sagt, die Regierung habe in den letzten zwei Monaten den Druck auf die Helfer massiv erhöht. "Und damit hat sie der Lesart Vorschub geleistet, die Helfer seien Teil des Problems und nicht Teil der Lösung." Er selbst hat mit seiner Organisation eine Schule für Flüchtlinge am Rand von Moria betrieben. Bis vor einem Monat die Behörden kamen und sagten: Die Toilette in eurem Gebäude entspricht nicht den nötigen Standards, wir müssen die Schule schließen. "Ausgerechnet die Toilette", sagt er spöttisch. Seit Sonntag schäme er sich, von hier zu sein. "Wir haben in den letzten sieben Jahren dieses positive Image aufgebaut: Lesbos, die Insel der Solidarität. Und in einer Nacht haben wir alles kaputt geschlagen." Das werde Folgen haben, für das Image der Insel, für den Tourismus. "Diesen Sommer werden wir alleine bleiben", sagt er.

Griechenland: "Das schlimmste steht uns noch bevor": Michalis Aivaliotis.

"Das schlimmste steht uns noch bevor": Michalis Aivaliotis.

(Foto: Tobias Zick)

Donnerstagabend, die Straße entlang der Hafeneinfahrt von Mytilene. Einige Dutzend Männer, Frauen und Kinder mit Koffern, Rucksäcken und Bündeln haben sich vor dem verschlossenen Tor versammelt, das zum Fähranleger führt. Ein Dampfer wartet auf seine Abfahrt Richtung Athen. Plötzlich rufen drei Uniformierte in Camouflage: "Go! Go!" Sie heben drohend ihre Schlagstöcke, die Menschen setzen sich in Bewegung, unter Protestrufen.

Eine Familie steht etwas abseits unter dem Vordach eines geschlossenen Geschäfts, der Wind weht ihnen Regentropfen ins Gesicht. Sie hätten doch nun die Papiere, die es ihnen erlauben, die Insel zu verlassen und aufs Festland zu fahren, sagt der Mann, der aus Afghanistan stammt, und holt ein paar laminierte Ausweise mit blauen Stempeln aus der Tasche. "Aber schon gestern hat uns die Polizei von hier verjagt und gesagt, wir könnten nicht aufs Schiff, und heute dasselbe." Es ist die Zeit der großen Verwirrung, der Gerüchte, der Geschäftemacher. Am Tag zuvor sollen Betrüger im Flüchtlingslager falsche Tickets für eine angeblich nun legale Überfahrt aufs Festland verkauft haben.

Deutsche Neonazis auf Lesbos

"Ich habe keine Ahnung, wie ich hier rauskommen soll", sagt Saleem al-Azawi, bevor er zurück nach Moria fährt. Im Irak hätten ihn radikale Islamisten bedroht, weil er sich für Frauenrechte einsetzte. Von der Türkei habe er sich nicht allzu viel erhofft, was Sicherheit und Menschenrechte betrifft. Und hier? "Das hätte ich dann doch nicht von einem europäischen Land erwartet", sagt er. "Wie wenig man hier als Mensch wert ist." Er hat dann noch einen Gedanken, was die Zukunft dieser Insel betrifft. "Nach Babylon kamen früher auch viele Touristen", sagt er. "Seit die Milizen kamen, ist das vorbei." Er sehe da auf Lesbos durchaus mögliche Parallelen.

Auch unter den Einheimischen ist die Stimmung nicht zuversichtlich. "Ich fürchte, das Schlimmste steht uns noch bevor", sagt Michalis Aivaliotis. "In den letzten Tagen war das Meer aufgewühlt, es sind keine neuen Boote angekommen. Aber in den nächsten Tagen soll die See ruhiger werden." Kurz nachdem er das sagt, am Freitagvormittag, wird eine Gruppe deutscher Neonazis im Zentrum von Mytilene gesichtet; sie wollen angeblich bei der Sicherung der EU-Grenzen helfen. Einer von ihnen wird am Kopf verletzt, offenbar von einem einheimischen Linken, und ruft daraufhin laut Zeugenberichten: "Wir werden mit euch machen, was wir in Kalavryta gemacht haben." Kalavryta ist ein griechisches Dorf, in dem die Wehrmacht 1943 Hunderte Zivilisten ermordete.

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