Künstlerbiografie:Rebellion gegen die binäre Welt

Wider das Etikett der Esoterikerin: Julia Voss räumt in ihrer für den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse nominierten Biografie der schwedischen Künstlerin Hilma af Klint mit allen Klischees auf.

Von Kia Vahland

Geometrisch, rational, konzentriert auf das Wesentliche, nämlich die harten Fakten: So scheint sie zu sein, die Moderne, trotzend dem Chaos des Lebens und der Fantasie. Abstrakte Kunst soll für einen unbedingten Fortschrittsglauben stehen, einen Bruch mit allem Dagewesenen und der Mystik sowieso. Dies aber ist eine spätere Wunschvorstellung, ein Konstrukt der Nachgeborenen, die ihr eigenes Weltbild in der Kunst wiederfinden möchten. Tatsächlich aber trieb viele der frühen Abstrakten eine durchaus romantische Vorstellung an: So begeistert, manchmal auch überwältigt sie waren von all den naturwissenschaftlichen Erfindungen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, so wenig interessierte sie der kapitalistische Materialismus. Sie verabschiedeten sich von der Historienmalerei, den gut kenntlichen Porträts, der getreuen Wiedergabe von Landschaften und Dingen gerade deshalb, weil ihnen vor allem die akademische Malerei zu simpel vorkam, zu ehrpusselig und zu ignorant gegenüber übersinnlichen Phänomenen. Röntgenstrahlen, Mikroskope, Teilchenphysik bewiesen den Avantgardisten, dass es mehr gibt auf der Welt als das, was das Auge auf den ersten Blick zu erkennen vermag.

Für frühe Vertreter der Abstraktion wie Piet Mondrian und Wassily Kandinsky ist dieser Hang zum "Geistigen", wie es Kandinsky ausdrückt, längst nachgewiesen. Seine musikalisch bewegten "Improvisationen", sein Abschied von russischer Volkskunst und deutscher Ritterromantik zugunsten wilder, freier Farbwirbel sind motiviert von Verachtung für ein Denken in Geld und Gütern sowie in scheinbar unumstößlichen Realitäten. Geschickt gelang es ihm, sich in seinen Schriften als Erfinder einer ungegenständlichen Moderne auszugeben.

Künstlerbiografie: Der Weg zur Abstraktion: Hilma af Klint, "Die Taube" von 1915.

Der Weg zur Abstraktion: Hilma af Klint, "Die Taube" von 1915.

(Foto: mauritius images/Art Collectio)

Übersehen wurde dabei lange, dass er keineswegs der erste Abstrakte war, da vor ihm nicht minder spirituell motivierte Kolleginnen bereits die Schwingungen ihres Geistes und ihrer Seele in ungegenständliche Malerei auf Papier und Leinwand übersetzten. Und wo diese Künstlerinnen, darunter die Britin Georgiana Houghton, dann doch wiederentdeckt wurden, haftete ihnen schnell das Etikett der Esoterikerinnen an; sie galten fälschlicherweise als Frauen ohne Weltbezug, ohne kunsthistorische Kenntnis und Ambition. Selbst die wohl schöpferischste dieser spirituell motivierten modernen Künstlerinnen, die Schwedin Hilma af Klint (1862 bis 1944), wurde erst in den vergangenen Jahren wirklich gewürdigt, mit einer Retrospektive im Moderna Museet in Stockholm, einem Auftritt auf der Venedig-Biennale und schließlich einer fulminanten Ausstellung im New Yorker Guggenheim-Museum, die in 2018/19 mit mehr als 600 000 verkauften Karten zum Kassenschlager wurde.

Der Schöpferin freier Abstraktionen widmet die Kunstkritikerin und Wissenschaftshistorikerin Julia Voss nun eine große, gründlich recherchierte und wunderbar anschaulich geschriebene Biografie. (Hilma af Klint - "Die Menschheit in Erstaunen versetzen". S. Fischer, Frankfurt 2020, 600 Seiten, 25,- Euro) Mit analytischem Blick gelingt der Autorin das Kunststück, Hilma af Klints heute manchmal fremd erscheinenden spirituellen Gedankengänge ernst zu nehmen, zu verstehen, ohne sie sich selbst zu eigen zu machen. Ihr Trick ist ein erzählerischer: Sie behandelt die Geister af Klints als Figuren, es sind Wesen mit Eigenschaften und Macken, die deshalb von Belang sind, weil sie der Protagonistin etwas bedeuten.

Künstlerbiografie: "Baum der Erkenntnis" aus dem Jahr 1913.

"Baum der Erkenntnis" aus dem Jahr 1913.

(Foto: mauritius images/Art Collectio)

Die in behüteten Verhältnissen aufgewachsene Tochter eines Offiziers fand früh Mentorinnen, die sie unterstützten. Viele Schwedinnen mit Ambitionen versammelten sich in zwar irgendwie christlichen, aber vor allem sehr freigeistigen Zirkeln, in denen einzelne von ihnen als Medien mit Verstorbenen oder anderen Geistern in Kontakt traten. Die Atmosphäre scheint beflügelnd, nicht repressiv gewesen zu sein; die Stimmen, die erst af Klints Förderinnen, dann sie selbst hört, sind freundliche Wesen, welche die Frauen ermutigen, sich nicht einengen zu lassen, sondern ihrer Fantasie, ihren Träumen und ihren künstlerischen Einfällen freien Lauf zu lassen.

Auch wenn die Autorin diese These ablehnt, weil sie mit Hilma af Klints Selbstverständnis nichts zu tun hat: Es liegt der Gedanke nah, dass die Séancen vor allem ein Mittel weiblicher Selbstermächtigung in Zeiten massiver Benachteiligung waren. Wer sich seine eigenen Autoritäten und imaginierten Freunde schafft, ist vom lieben Gott, von Kunstprofessoren, Museumsleuten, Vaterfiguren aller Art zumindest innerlich nicht mehr abhängig. Dazu passt, dass sich Hilma af Klint zwar später für Rudolf Steiners anthroposophische Lehre interessiert, sich aber auf diese nicht beschränkt, sondern sie munter mit Elementen des Hinduismus, Sufismus und eigenen ganzheitlichen Ideen mischt. Ihr Ziel ist, das binäre Denken zu unterlaufen und fließende Übergänge etwa zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, Herz und Verstand zu zeigen. Erst der Rückenwind durch die Freundinnen und die Geister gibt der Künstlerin die Stärke, radikal zu sein, im Denken wie im Malen.

Hilma af Klint, 1901

Hilma af Klint, porträtiert von einem unbekannten Fotografen.

(Foto: Moderna Museet)

Welche Freiheit Hilma af Klint fand, lässt staunen. Die Vorstellung, da habe eine Spiritualistin abgeschottet vor sich hingewerkelt, ist grundlegend falsch. Af Klint reiste, sie war im ständigen Dialog mit ihrer jeweiligen Partnerin und anderen Freundinnen und Freunden, sie kannte sich in der Kunst und der intellektuellen wie politischen Landschaft aus. Der Bruch mit der gegenständlichen Malerei passiert ihr nicht zufällig, er ist ein Plan. Die langsame Entwicklung von organischen Kurven hin zu kantiger Geometrie ergibt sich dabei fast zwangsläufig. Formal scheut sie, im Gegensatz zu vielen anderen Künstlerinnen dieser Jahre, auch Größe nicht. Manche ihre Formspiele finden sich auf überdimensionalen Bildern. Dass all das nicht oder kaum verstanden wurde in ihrer Zeit, vermochte af Klints Produktivität nicht zu stoppen. Sie entschied einfach, dass ihre Gemälde erst Jahrzehnte nach ihrem Tod publik gemacht werden durften.

Julia Voss' für den Leipziger Buchpreis nominierte Biografie gibt Hilma af Klint ihre Geschichte zurück - was bei einer Protagonistin, die Unmengen persönlicher Selbstzeugnisse vernichtet hat, kein einfaches Unterfangen ist. Tatsächlich genügt es nicht, nur die Verdienste einer lange zu Unrecht vergessenen Künstlerin zu würdigen, um überholte Narrative zu ändern. Dafür braucht es Personen aus Fleisch und Blut. Erst wer versteht, aus welchen nicht nur intellektuellen, sondern auch lebensweltlichen und zeithistorischen Gründen Hilma af Klint malte, wie sie malte, und dachte, wie sie dachte, kann alte Vorurteile besiegen und eine Leerstelle in der Kunstgeschichte ausleuchten. Das gelingt diesem Buch unbedingt.

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