"Colonia Dignidad":Von Folter und Folklore

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Gib Pfötchen: Paul Schäfer, Guru der Sekte Colonia Dignidad, aufgenommen etwa im Jahr 1970. (Foto: WDR/LOOKSfilm)

Eine TV-Doku widmet sich den Schrecken der Sekte "Colonia Dignidad" mit bislang unveröffentlichtem Filmmaterial. Die Bilder sind beeindruckend - doch Experten üben Kritik.

Von Peter Burghardt

Als sie gefoltert wurden, lief "Schwanensee" oder "Eine kleine Nachtmusik". So war das in den Kellern der Colonia Dignidad, der Kolonie Würde, des deutschen Horrorlagers in Chile. Überlebende Regimegegner erinnern sich. Für den Diktator Augusto Pinochet sang der Kolonisten-Chor, "Ich hatt' einen Kameraden", der Tyrann war bei seinem Besuch gerührt. Pinochet bekam einen Mercedes geschenkt und verteilte Schürfrechte an die Terrorhelfer. "Der August", wie Paul Schäfer sagt, der Guru der Colonia, der Kinderschänder. Schäfer sitzt dabei in seinem Sessel wie in einem Thron, seine Stimme hallt.

Es ist einer Handvoll hartnäckiger Zeugen zu verdanken, dass die Geschichte nicht vergessen wurde

Solche Szenen sieht man im neuesten Beitrag zu Deutschlands Skandal in den Anden, einige davon erstmals im Original. "Colonia Dignidad - Aus dem Inneren einer Sekte" heißt das Stück der Regisseure Annette Baumeister und Wilfried Huismann, das erst auf Arte zu sehen war und ab Montag in der ARD läuft. Viel war zuletzt zu sehen zu diesem Fall. Erst der Spielfilm "Colonia Dignidad" von Florian Gallenberger mit Emma Watson und Daniel Brühl, schließlich die Thriller-Serie "Dignity". Ein Theaterstück gibt es auch und natürlich zahlreiche Reportagen. Jetzt also dies.

Serie "Dignity" über Colonia Dignidad
:Die Macht der Grausamkeit

Die Joyn-Serie "Dignity" beschreibt eindringlich die Unterdrückungs­mechanismen in der berüchtigten Colonia Dignidad von Alt-Nazi Paul Schäfer.

Von Stefan Fischer

Die Colonia Dignidad übt auch auf deutsche Krimifreunde eine morbide Faszination aus, weil an diesem ganz realen Tatort so ziemlich jeder Schrecken vorkommt. Mord, Folter, Kindesmissbrauch, Entführung, Gehirnwäsche, Zwangsarbeit, Giftgas, Waffenschmuggel, Funkanlagen - und das alles hinter der Fassade von teutonischer Frömmigkeit und Folklore, vor den Augen der Staaten Chile und Deutschland. Kolonie Würde. Bayerisches Dorf. Ein schwarzes Loch der Geschichte.

Die Doku beschreibt, wie der Laienprediger und Päderast Schäfer im Nachkriegsdeutschland seine Gemeinde aufbaute und mit seinen Jüngern Anfang der Sechzigerjahre aus dem Rheinland in Chiles Süden floh. Wie die Deutschen ein vermeintliches Mustergut schufen, das in Wirklichkeit die Hölle war, wie sich Schäfer an Jungen verging, wie gequält, geschlagen, versklavt und vergewaltigt wurde. Und gebetet. Wie die Kolonie den Putsch gegen den gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende unterstützte und die Enklave zu einem Zentrum von Folter und Mord des Geheimdienstes machte. Man weiß das schon lange, man kannte nur die meisten Bilder dazu nicht. Das ist der Trumpf dieser Sendung - und ihr Problem.

Zum ersten Mal erzählen sie ausführlich ihre Geschichte, heißt es, als zwei ehemalige Kolonisten auf einem Sofa Platz nehmen. Das stimmt offenbar für dieses Paar, aber natürlich hatten viele frühere und aktuelle Bewohner der Colonia in all den Jahren schon eine Menge erzählt. In Wahrheit ist es einer Handvoll hartnäckiger Zeugen, Juristen, Aktivisten und Journalisten zu verdanken, dass das Grauen nicht in Vergessenheit geraten war, ehe die Filmindustrie einstieg. Aber ja, hier sind zu den Worten die Bilder.

Sie zeigen Schäfer, Pinochet, Untertanen und Kumpane, Gruselkrankenhaus und unschuldige Landschaft. Historisch sehr interessant. Aber woher kommen die Bilder? Wie wurden sie ausgewählt?

Das originale Filmmaterial, so der Produzent, stamme "vom Leiter des Filmdepartments der Kolonie", Wolfgang Müller. "Die Geschichte der Colonia Dignidad muss aufgearbeitet werden", habe er dem chilenischen Regisseur Christián Leighton gesagt und ihm die Rollen und Tapes übergeben, Leighton sei 2016 damit zur Produktionsfirma Looksfilm gekommen. 400 Stunden Film, 100 zusätzliche Stunden Ton und mehr als 9000 Fotos, jahrelang unterirdisch versteckt, seien dafür restauriert worden, heißt es.

Bis heute leben Kolonisten auf dem Gelände, das gleichzeitig ein Freizeitpark ist

Müller zählte zur Clique um Paul Schäfer und wurde 2013 wegen Beihilfe zur Kindesentführung in Chile zu drei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Der Colonia-Experte Jan Stehle findet es extrem heikel, dass dieser Fundus aus den geheimen Beständen einer kriminellen Vereinigung privatisiert werde, statt ihn vorher Juristen und Historikern zugänglich zu machen. Die Colonia versucht traditionell, Aufklärung und Wiedergutmachung zu behindern. Bei Razzien auf dem Gelände, von denen auch in diesem Zweiteiler die Rede ist, war das Filmarchiv offensichtlich nicht entdeckt worden. "Das Filmmaterial wurde aus der Colonia Dignidad entwendet, unter der Nase des Zolls im Privatwagen nach Argentinien geschmuggelt, in Buenos Aires digitalisiert ...", twitterte der frühere Kolonist und heutige Anwalt Winfried Hempel.

Ihm missfällt so einiges an der Sendung. Auch tun viele Kolonisten so, als sei Paul Schäfer praktisch allein schuld gewesen. In der Colonia, die längst Villa Baviera heißt, leben immer noch Kolonisten, gleichzeitig ist das Gelände ein Freizeitpark. Die These vom Einzeltäter und dem Ende der Geschichte ist praktisch, zumal seit Schäfers Tod 2010, aber sie ist falsch. Die Kinder der alten Riege führen das Kommando, von einer angemessenen Gedenkstätte keine Spur. In Chile gab es ein paar Urteile gegen Schäfers Schergen, in Deutschland kein einziges. Und wo ist das mutmaßliche Vermögen der Colonia geblieben?

Zuletzt wurden die deutschen Ermittlungen gegen Hartmut Hopp eingestellt, den 2011 nach Krefeld geflüchteten ehemaligen Colonia-Arzt. Auch gegen ihn erheben Betroffene in dem Film schwere Vorwürfe, nur sind etliche Verbrechen der Colonia wegen der schleppenden Aufarbeitung verjährt - mit Ausnahme von Mord. Auch der unermüdliche Opferanwalt Hernán Fernández ärgert sich über diese Innenansicht aus der Sekte. Die Doku vermische echte Helden wie (den 1966 aus der Colonia geflüchteten) Wolfgang Kneese mit Tätern, die zu der Tragödie beigetragen hätten. Es sei "eine fragwürdige Betrachtung der Vergangenheit in einem Fall, der weiterhin dramatisch präsent ist. Das kann die Zuschauer verwirren".

Colonia Dignidad - Aus dem Innern einer deutschen Sekte , Das Erste, 22.45 Uhr.

© SZ vom 16.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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