Klassikkolumne:In jedem Winkel

Gerade wird das 250.Geburtstagsjubiläum von Ludwig van Beethoven gefeiert. Dass der nicht nur der Meister der Fünften ist, beweist die Sängerin Chen Reiss, die Beethovens unbekannte Arie über zu enge Frauenschuhe aufgenommen hat.

Von Michael Stallknecht

Das Œuvre von Meisterkomponisten ist oft derart umfangreich, dass nur sehr spezialisierte Forscher es bis in jeden Winkel kennen. Jubiläumsjahre, wie sie gerade Ludwig van Beethoven mit seinem 250. Geburtstag feiert, bieten da einen guten Anlass, sich auch einmal mit dem Abseitigen, manchmal Skurrilen, oft aber auch nicht weniger Meisterhaften zu beschäftigen und dabei gängige Bilder des Komponisten zu erweitern.

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Konnte man sich Beethoven bisher beispielsweise als Komponisten vorstellen, der eine Arie über zu enge Frauenschuhe schrieb? Er hat es getan, als Einlegearie für das Singspiel eines Komponistenkollegen, das den Titel "Die schöne Schusterin" trug. Die israelische Sopranistin Chen Reiss hat sich diesen Schuh nun angezogen und probiert auf ihrer neuen Platte (Onyx) gleich noch eine ganze Reihe von anderen Modellen Beethovenscher Vokalkompositionen durch. Schließlich hält sich hartnäckig das Gerücht, dass der Meister nicht gerade Maßarbeit für die menschliche Stimme geliefert habe. Reiss beweist, dass das ein Irrtum ist - jedenfalls wenn man singen kann wie sie. Die Platte ist ein Muster in Sachen Vokaltechnik, Geläufigkeit, Phrasierungskunst, Farbenreichtum, Textdeutlichkeit und Deutung, vor allem aber theatraler Expressivität. Deshalb ist Reiss kein Schuh zu klein und keiner zu groß. Singspielhaftes gestaltet sie ohne falsche Süße, ausladende italienische Konzertarien wie "Ah! perfido" mit furioser Geste, wobei sie von der Academy of Ancient Music unter Richard Egarr mit nie nachlassender Entdeckerfreude angefeuert wird.

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Dass Beethoven als Komponist eher ein Spätstarter gewesen sei, gehört zu den weiteren Klischees über ihn. Vom Gegenteil kann man sich auf einer Platte mit der Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. und der auf die Erhebung Leopolds II. zu Kaiserwürde überzeugen (Naxos). So anlassgebunden die Texte sind, so sehr beweist die musikalische Umsetzung durch den Dirigenten Leif Segerstam und das Turku Philharmonic Orchestra, wie sicher bereits der 19-jährige, noch in Bonn lebende Komponist das große Format für Solisten, Chor und Orchester beherrschte. Und wie sehr er dabei bereits nach Beethoven klingt.

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Das Turku Philharmonic und sein unermüdlicher Chefdirigent beschäftigen sich für das Label Naxos nicht erst seit dem Jubiläumsjahr mit dem unbekannteren Beethoven, etwa dem Komponisten von Schauspielmusiken. Die zu "Die Ruinen von Athen" haben sie dankenswerterweise gemeinsam mit dem vollständigen, von Schauspielern gelesenen Drama August von Kotzebues eingespielt. Beethoven kann man dabei unter anderem als Komponisten eines türkischen Marsches kennenlernen oder eines orientalisierenden Derwischchors, der noch heute jeden Bauchtanz befeuern könnte.

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Dass Beethoven zum Tanzen animieren konnte, belegt auch der Pianist Matthias Kirschnereit auf einer fabelhaften CD (Berlin Classics) mit weitgehend unbekannten Klavierstücken. Darunter findet sich Knappes, kompositorisch oft Hochverdichtetes, das Beethoven etwa in Gestalt von Albumblättern an Gönner und Freunde verschenkte. Aber auch Stücke, die ihm für den geplanten Zweck zu umfangreich gerieten wie die atemberaubend kühne "Bagatelle" in c-Moll WoO 52, die eigentlich das Scherzo der Klaviersonate op. 10/1 hätte werden sollen. Kirschnereit erweist sich dabei als Meisterpianist gerade auch in der poetischen Miniatur, weil er ebenso nonchalant wie im Detail genau spielt, pointiert und durchdacht, aber ohne jeden Nachdruck.

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Wer noch detaillierter in Beethovens Klavierwerkstatt eindringen möchte, der kann das mit Pianist Sergio Gallo tun (Naxos). Es ist das Reich der musikwissenschaftlichen Spezialkataloge, die auch alle Skizzen Beethovens zu erfassen suchen oder Transkriptionen anderer Komponisten. Viele der Stücke dauern nicht mal eine Minute, andere eine Viertelstunde wie die "Dressler-Variationen", mit denen der 12-jährige Beethoven vor allem seine pianistischen Fähigkeiten zeigen wollte. Doch auch das wohl bekannteste Stück Beethovens hat sich hierhin verirrt, freilich in einer unbekannten Variante: "Für Elise", das Gallo mit schönem, weich konturiertem Anschlag in einer späteren Abwandlung Beethovens spielt.

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