Südamerika:Die Wut wird lauter

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Vergleicht Corona mit einer „kleinen Grippe“: Präsident Jair Bolsonaro. (Foto: Andressa Anholete/Getty Images)

Zahlreiche Brasilianer ärgern sich über Verharmlosungen ihres Präsidenten Jair Bolsonaro. Der sorgt sich vor allem um die Wirtschaft.

Von Christoph Gurk

Die Brasilianer sind einiges von ihrem Präsidenten gewohnt. Dennoch brach am Dienstagabend ein Sturm der Entrüstung los. Zur besten Sendezeit wandte sich Jair Bolsonaro an sein Volk. Das Coronavirus sei nun endgültig in Brasilien angekommen, erklärte er in einer fünfminütigen Ansprache. Allerdings werde es auch bald wieder verschwunden sein. Schulen und Geschäfte sollten darum bitte wieder öffnen: "Wir müssen zurück zur Normalität." Zeitgleich mit der Ansprache schlugen im ganzen Land wütende Brasilianer vor offenen Fenstern oder auf Balkonen auf Töpfe und Pfannen. Seit mehr als einer Woche gibt es jeden Abend solche Proteste, und je höher die Fallzahlen steigen, desto lauter werden sie.

Mehr als 2200 mit dem Coronavirus infizierte Patienten gibt es derzeit offiziell in Brasilien. Allerdings dürfte die Dunkelziffer viel höher sein, und schon in zwei Wochen könnten die Zahlen auf mehr als 200 000 Menschen steigen, mit 5000 Todesopfern, so ein internes Papier der Regierung. Spätestens Ende April würde dann das Gesundheitssystem kollabieren, sagt Brasiliens Gesundheitsminister, und das obwohl der eigentliche Höhepunkt des Ausbruchs erst für August zu erwarten ist.

Mit mehr als 200 Millionen Einwohnern ist Brasilien das bevölkerungsreichste Land Lateinamerikas. Dreiviertel der Brasilianer leben in Städten, mehr als 20 Millionen allein in São Paulo. Ende Februar wurde hier der erste Corona-Fall des ganzen Subkontinents registriert. Der 61 Jahre alte Mann hatte sich auf einer Reise in Italien mit dem Virus angesteckt. Ähnliche Fälle folgten. Lange galt Corona in Brasilien darum als Krankheit der Reichen und weißen Oberschicht, doch dann steckte eine schwarze Haushälterin in Rio sich bei ihren Arbeitgebern an, einer Oberschichtsfamilie, die nach einer Italienreise eine Infektion verschwiegen hatte. Die Familie ist längst wieder gesund, die Haushälterin aber mittlerweile tot. Seitdem ist klar, dass es die Menschen aus der Unterschicht sein werden, die das Virus am härtesten trifft.

Längst ist Covid-19 auch in den Favelas angekommen. Mancherorts lassen Anwohner keine Fremden mehr in ihre Viertel. Dazu gibt es Berichte von Drogengangs, die Bewohner angeblich per Lautsprecherdurchsagen und Handynachrichten zu Ausgangssperren aufrufen. Es sind verzweifelte Maßnahmen, die das Virus aber vermutlich nicht werden stoppen können. Millionen Menschen leben in Brasiliens Armenvierteln. Oft gibt es kein fließendes Wasser, die Bevölkerungsdichte ist extrem hoch und die Sozialkontakte traditionell eng, sagt Theresa Williamson, die mit ihrer Organisation Catalytic Communities seit mehr als 20 Jahren in den Armenvierteln von Rio arbeitet. "Die Leute helfen sich gegenseitig, alle kennen sich, das ist einer der großen Vorteile der Favelas". Doch genau das wird nun zum Problem. "Keine Frage: Wenn Corona in diesen Vierteln ausbricht, kommt es unausweichlich zu einer Katastrophe", sagt Williamson.

Zwar gibt es in Brasilien ein staatliches Gesundheitssystem, dieses ist aber heillos überlastet. Nach Jahren mit Sparrunden und Kürzungen sind viele Krankenhäuser in einem katastrophalen Zustand. "Die Armen werden an den Krankenhaustüren sterben", sagte vergangene Woche ein renommierter Medizinprofessor und auch vielen Politikern ist längst klar, wie prekär die Lage ist. Die Gouverneure mehrerer Bundesstaaten haben bereits auf eigene Faust Schulen geschlossen und Ausgangssperren verhängt. Seit Dienstag sind auch in São Paulo und Rio Geschäfte, Restaurants und öffentliche Einrichtungen geschlossen. Doch all das, sagt Brasiliens Präsident, sei ein großer Fehler.

Die größte Angst von Bolsonaro ist nicht das Virus, sondern eine Wirtschaftskrise. Nun, wo sie immer unausweichlicher wird, versucht er, die Schuld den Gouverneuren in die Schuhe zu schieben. Er bezeichnet sie als "Arbeitsplatzvernichter". Corona betreffe nur Menschen über 60 und er selbst, sagte Brasiliens Präsident, sei zwar schon 65, aber früher Sportler gewesen, darum erwarte ihn kaum mehr als eine "gripezinha", eine kleine Grippe.

© SZ vom 26.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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