Uwe Timm:Die seltene Gabe, vom Glück erzählen zu können

Zwischen Currywurst und Utopien: Uwe Timm wird 80

Wer Uwe Timm liest, in dem wächst die Hoffnung, dass Utopie gelingen kann.

(Foto: dpa)

Niemand schreibt über Utopie und Historie wie Uwe Timm. Am Montag wird der Schriftsteller achtzig Jahre alt.

Von Marie Schmidt

Bevor die Gratulanten kommen, die in zwei Sammelbänden zu Dutzenden den Autor hochleben lassen, schenkt Uwe Timm sich selbst (und uns) einen Essayband zum Geburtstag. Es sind Texte über sein Lebensthema: Utopien, Modelle eines gerechteren, von Leid befreiten Zusammenlebens, des größeren Glücks in der Gemeinschaft. Als Nicht-Orte im Wortsinn gehören sie dem Schriftsteller: "Die Literatur", schreibt er, "bringt in der Sprache solche Gegenwelten, die einen nicht realen Ort haben, hervor, insofern ist sie utopisch."

In der realen Welt der Politik bergen Utopien die Gefahr, autoritär und totalitär verwirklicht werden zu wollen, und so "trägt das Modell Utopia die Dystopie schon in sich" - auch das ein wiederkehrendes Timm'sches Thema. Zuletzt in "Ikarien" (2017) dem Roman über den Eugeniker Alfred Ploetz, an dem er jahrzehntelang geschrieben hat. Dem hat er in wohlüberlegter Erzählkonstruktion einen früheren Gefährten namens Wagner gegenübergestellt. Die Studienfreunde reisen 1884 nach Amerika, um in einer Kommune in Iowa die Realisierung des utopischen Romans "Reise nach Ikarien" des französischen Sozialisten Étienne Cabet zu beobachten. Es wird eine Enttäuschung, die Kommunarden sind zerstritten, abgearbeitet, überaltert. Aus diesem Erlebnis ziehen die Männer unterschiedliche Schlüsse: Ploetz hält am Gedanken fest, die "Ungerechtigkeit in der Natur des Einzelnen sei zu korrigieren" und wird zum Grundlagenforscher der Rassenpolitik des NS. Wagner bleibt Sozialist, erlebt die Münchner Räterepublik, wird von den Nazis verfolgt und gefoltert. Die Frage nach dem Umkippen der Utopien stellt sich Uwe Timm eben nicht nur als gesellschaftliches Verhängnis, sondern immer auch dem Einzelnen: Wie kann es sein, dass der eine mit den Verbrechern zieht und der andere sich die Integrität bewahrt?

Dieses existenzielle Thema der Kinder der Nachkriegszeit liegt auch den autobiografischen Büchern des 1940 in Hamburg geborenen Uwe Timm zugrunde: "Am Beispiel meines Bruders" (2003) und "Der Freund und der Fremde" (2005) über seinen Schulfreund Benno Ohnesorg. Darin erzählt er von sich selbst als einem Jungen, der sich mit der Schule, besonders dem Rechtschreiben, schwertut ("Warum schrieb sich der Schwan, der doch zwei Flügel hatte, nur mit einem a") und in die Kürschnerlehre geschickt wird. Nach dem frühen Tod des Vaters führt er das Pelzwarengeschäft der Familie, bis es schuldenfrei ist und erfüllt sich dann den Traum: Abitur machen, studieren, um schreiben zu können. Die diesem Autor eigene innere Unabhängigkeit, die stupende Freiheit von Systemangst, mag aber noch davon übrig sein, dass ihn am Anfang seiner Laufbahn "die beruhigende Gewissheit" begleitete, "dass ich im Notfall jederzeit mit meiner Arbeit als Kürschner und dem Entwerfen von Schnittmustern meinen Unterhalt hätte verdienen können."

Timm ist weniger BRD-Chronist als mondäner Intellektueller

Mit teilnehmender Distanz schreibt er von seinem Debüt "Heißer Sommer" (1974) an über die 68er-Bewegung. Zu sagen, er sei ein politischer Autor, stimmt aber nur, wenn man damit eine Genauigkeit im Umgang mit dem historischen Material meint. Wie etwa schon in "Morenga", seinem Roman über den Mord an den Herero und Nama. Er erschien 1978, lange bevor deutsche Kolonialverbrechen ein politisch erwünschtes Thema waren (und ist mit einem Nachwort des Grünen-Politikers Robert Habeck gerade bei dtv neu aufgelegt worden).

Überhaupt ist es zu eng gesehen, wenn man ihn einen Chronisten der BRD nennt, weil sein berühmtestes Buch "Die Entdeckung der Currywurst" (1993) von einigen ihrer Gründungsmythen handelt. Uwe Timm war immer ein mondäner Intellektueller. Als großen Reisenden kann man ihn in drei Texten über Paraguay im neuen Essayband "Der Verrückte in den Dünen" wieder erleben. Ebenfalls zu lesen sind da seine Tübinger Poetikvorlesungen "Raumordnung". "Die Dichtung", heißt es da, "kann das ideologisch Utopische in das Komische, in das Groteske, ins widerständig Allgemeinmenschliche verschieben". Sie sei, wie das Begehren, nicht widerspruchsfrei zu kriegen. Weshalb etwa in Thomas Morus' klassischem "Utopia" Ehebruch streng geahndet und Literatur nur als Unterhaltung geduldet wird. So gedeihe keine Dichtung, meint Uwe Timm: "Woher sollte sie in der beschriebenen, verordneten Harmonie, in der widerspruchslosen Statik der utopischen Gesellschaft, ihre Widerständigkeit und Bedeutung nehmen? Denkbar wäre eine Samisdat-Literatur der Ehebrecher, also eine des Begehrens. Sie könnte die geschichtliche Dialektik wieder in Gang setzen und das Ende der Geschichte Utopias sein."

So gesehen scheint eine seltene Gabe Uwe Timms von Bedeutung: vom Glück erzählen zu können. Von geglückter Liebe und überhaupt von Momenten des individuellen Glücks, wie in dem titelgebenden Essay "Der Verrückte in den Dünen". Da geht es um die Siedlung Villa Gesell, die der "Prophet" Carlo Gesell, Sohn des Erfinders des Schwundgelds Silvio Gesell, den Wanderdünen an der Atlantikküste Argentiniens abgetrotzt hat. Dort steht das Elternhaus von Timms Frau, der Übersetzerin Dagmar Ploetz, und dahin kehren sie als junges Paar zurück, bevor sie eine Familie mit Kindern werden, vor der Militärdiktatur in Argentinien, vor "Mailen, Surfen, Skypen". Ein kleiner Schreibtisch, Arbeit am Roman "Morenga", "die Wärme, die Hitze, die mit dem Text korrespondierte", das Meer und "Liebe, wie sie nur der Sommer so leicht gewähren kann", ein vollkommener Moment: "Eine lange, ruhige Gegenwart".

Die Erfindung der Anästhesie beschreibt Timm als verwirklichte Utopie

Darin liegt womöglich das Geheimnis einer gelassenen Haltung zu den politischen Widersprüchen: "Vielleicht wäre nicht das Fragen nach der einen perfekten Utopie, sondern das nach einer Vielzahl nicht perfekter, aber erreichbarer Utopien ein Weg?" Das Glück, wenn's wirklich kommt, genießen und weitergeben, das scheint die gelebte Utopie des Uwe Timm zu sein. Das spürt man auch in den beiden Sammelbänden über ihn: Dem philologisch ernsteren von Martin Hielscher und Friedhelm Marx, "Wunschort und Widerstand" und dem Blumenstrauß-haften seiner Verleger Kerstin Gleba und Helge Malchow, "Am Beispiel eines Autors". In beiden sprechen Gefährten von Uwe Timms Gabe, seine Gesprächspartner neugierig ernst zu nehmen und in ihnen den Wunsch zu wecken, von ihm gehört zu werden.

Jetzt wird er achtzig Jahre alt, an einem Montag in diesem merkwürdigen Frühjahr der Pandemie, von dem niemand weiß, was es historisch bedeuten wird. Der letzte Essay seines Utopien-Bandes heißt "Der Aufwachraum" und handelt von der Medizin, die, wo sie ökonomisch effizient sein soll und den Menschen chirurgisch oder gentechnisch optimiert, dystopische Züge bekommt. Die Vermeidung von Leid aber und die Abschaffung von Schmerzen durch die Anästhesie, beschreibt Timm als eine verwirklichte Utopie. Und auf einmal wächst einem lesend die Hoffnung wieder, dass, was wir im Moment mitmachen, eine riesige gesellschaftliche Anstrengung zur Rettung dieser Utopie ist. Ein Glück ist auf jeden Fall, dass Uwe Timms Neugier auch vor diesem epochalen Ereignis keinen Halt machen wird.

Kerstin Gleba, Helge Malchow (Hg.): Am Beispiel eines Autors. Texte zu Uwe Timm. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 208 Seiten, 20 Euro. Martin Hielscher, Friedhelm Marx (Hg.): Wunschort und Widerstand. Zum Werk Uwe Timms. Wallstein, Göttingen 2020. 396 Seiten, 29,90 Euro. Uwe Timm: Der Verrückte in den Dünen. Über Utopie und Literatur. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020. 192 Seiten, 20 Euro.

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