Berlin:Echt riesig

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Vor 100 Jahren wurde Berlin durch Eingemeindungen auf einen Schlag 13 Mal größer. Heute kann die Stadt daher leichter auf Wohnungsprobleme reagieren. Ein Vorbild?

Von Lars Klaaßen

Es herrschte offenbar ein ziemliches Durcheinander. Anfang des 20. Jahrhunderts soll es bei den 151 Städten und Gemeinden im Großraum Berlin 43 verschiedene Gaswerke, 17 Wasser- und 15 Elektrizitätswerke gegeben haben, außerdem 16 Straßenbahnbetriebe, die unterschiedliche Preise verlangten. Es gab Verkehrsprobleme, Wohnungsnot und eine zunehmende soziale Ungleichheit, auch zwischen den einzelnen Kommunen. Angesichts dieser gigantischen Aufgaben hat die deutsche Hauptstadt vom 30. September auf den 1. Oktober 1920 eine der wichtigsten Entscheidungen ihrer Geschichte getroffen: Sie hat Groß-Berlin geschaffen.

Acht Städte, 59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke wurden zusammengeschlossen. Die Bevölkerungszahl von bis dahin 1,9 Millionen Einwohnern verdoppelte sich, die Fläche des Stadtgebiets wurde um das Dreizehnfache auf 878 Quadratkilometer erweitert. Praktisch über Nacht wurde Berlin zur drittgrößten Stadt der Welt nach London und New York.

"Groß-Berlin war ein Produkt der extremen Krise", sagt Harald Bodenschatz, Assoziierter Professor am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin. Auf den Weltkrieg 1914 bis 1918 folgten Novemberrevolution, politische Wirren und wirtschaftlicher Niedergang: "In dieser Situation öffnete sich kurz ein Fenster für diesen großen Sprung."

Schöneberg wollte ein Prestigeobjekt und baute eine U-Bahn. Sie hat nur fünf Stationen

Schon zu Kaisers Zeiten war die Hauptstadt mit den umliegenden Kommunen zu einer boomenden Agglomeration verschmolzen - die auf der Verwaltungsebene aber ein Flickenteppich blieb. Am 27. April 1920 stimmte die Preußische Landesversammlung denkbar knapp für die neue Einheitsgemeinde. Von 315 Abgeordneten stimmten nur 164 für das Gesetz, ausschließlich die Vertreter der SPD und der USPD (Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands) sowie Teile der DDP (Deutsche Demokratische Partei). "Ein rot-rotes Programm sozusagen", erläutert Bodenschatz, "das über viele Jahre von konservativer Seite blockiert worden ist, eben weil man das 'rote' Berlin fürchtete." Eine große Hürde auf dem langen Weg: Viele Städte und Gemeinden rund um das kleine Alt-Berlin wollten unabhängig bleiben.

Die Idee Groß-Berlin hatten Berliner Architekten schon 1907 mit einem Wettbewerb um die städtebauliche Entwicklung der Region propagiert. "Damit machte man auf das fundamentale Problem der unabgestimmten städtebaulichen Entwicklung aufmerksam und band die betroffenen Kommunen ein", erläutert Bodenschatz. "Zudem wurde die internationale Fachwelt für gänzlich neue Fragen mobilisiert, etwa die Planung eines Großraums."

Die Präsentation der Wettbewerbsergebnisse wurde zur großen, öffentlich beachteten Propaganda-Show: der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin 1910. Das Ergebnis war mager. 1912 wurde lediglich ein "Zweckverband" gegründet. Der umfasste zwar ein Territorium mit 4,2 Millionen Einwohnern, doch die Mitglieder kooperierten nur widerstrebend. So betrieben die Kommunen weiterhin ihre eigene Infrastruktur. Ein Relikt der oft eigenwilligen Stadtentwicklungsprojekte lässt sich heute noch bestaunen: die Stummel-Linie U4 mit gerade mal fünf Stationen. Die bis 1920 eigenständige Stadt Schöneberg hatte sich diese eigene U-Bahn 1908 bis 1910 aus Prestigegründen gebaut, ohne Anschluss an die nahe liegende, bereits zuvor in Betrieb genommene "Stammstrecke" von Berlin nach Charlottenburg.

Nach der Gründung Groß-Berlins schuf die Stadt Unternehmen, die vieles voranbrachten, etwa die Berliner Verkehrs-Aktiengesellschaft (BVG), die Berliner Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerke. Die Kommunalwirtschaft umfasste auch das Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Sport und Freizeit.

Große Aufmerksamkeit erregte nicht zuletzt die Berliner "Bodenvorratspolitik", mit der auch langfristig umfangreiche Wohnungsbauprojekte ermöglicht wurden. "Ein klar abgestimmtes und formuliertes Reformprojekt lag dem Ganzen allerdings nicht zugrunde", betont Bodenschatz. "Ein solches Projekt kann es in einer Demokratie auch gar nicht geben, allenfalls in einer Diktatur." Eine Vertiefung in die städtebaulichen Dokumente jener Zeit verdeutliche vielmehr eine zutiefst verunsicherte, zerrissene, bis in die Wortwahl radikalisierte und sich oft untereinander bekämpfende fachliche und politische Welt.

Soll München der achte Regierungsbezirk von Bayern werden?

Um die skeptischen Umlandkommunen 1920 für einen Zusammenschluss zu gewinnen, sprachen die treibenden Akteure lieber nicht von "Groß-Berlin", sondern von der "Einheitsgemeinde". Und sie mussten machtpolitische Kompromisse eingehen. In Berlin wurden 20 Bezirke eingerichtet, Namensgeber wurden ehemals unabhängige Gemeinden und Städte, regiert wurde oft weiterhin in den jetzt bezirklichen Rathäusern. "Sie bekamen erhebliche Befugnisse übertragen", sagt Bodenschatz. "An vielen Punkten wurden die Kompetenzen zwischen dem Magistrat als Berliner Regierung und der Ebene darunter freilich nicht klar getrennt." 1929 räumte Oberbürgermeister Gustav Böß ein: "Es läßt sich nicht leugnen, daß die Verwaltung noch keineswegs ideal ist." Seit dem Jahr 2001 gibt es nur noch zwölf Bezirke, jeder hat nach wie vor einen Bürgermeister, Stadträte und ein Parlament. Auseinandersetzungen darüber, welche Ebene wofür zuständig ist, prägen den politischen Betrieb bis heute.

Bäume und Beton: Investoren achten immer häufiger neben der Rendite auch auf die Nachhaltigkeit von Immobilien. (Foto: Florian Gaertner/imago/photothek)

Auch das Verhältnis zwischen Berlin und Brandenburg wurde durch die Stadterweiterung fundamental verändert. Derzeit stehen den mehr als 3,7 Millionen Stadtbewohnern gute 2,5 Millionen Einwohner im Flächenland gegenüber. Von letzteren leben knapp eine Million Menschen im "engeren Verflechtungsraum" Berlins. Wäre dort wieder eine Eingemeindung angesagt?

1996 ist eine Volksabstimmung zur Vereinigung der Bundesländer Berlin und Brandenburg am Widerstand von Brandenburg gescheitert. Pünktlich zum 100-Jährigen plädiert die Stiftung Zukunft Berlin, eine gemeinnützige und politisch unabhängige Organisation, die sich für die Entwicklung Berlins einsetzt, dafür, zumindest einen "Regionalrat" zu gründen. Der könnte helfen, Aufgaben wie Verkehrspolitik, Wohnungsbau, Wirtschaftsförderung und -ansiedlung besser zu koordinieren.

In anderen Städten ist das Verhältnis von umfassenden Aufgaben und strukturellen Grenzen ähnlich. So wurde in München vor Kurzem diskutiert, ob der Regierungsbezirk Oberbayern geteilt und die Landeshauptstadt achter Regierungsbezirk Bayerns werden soll. Eine der Fragen hierbei ist, wie sich die Reform auf die Bezirksumlage auswirken würde, die München dann bezahlen müsste. "Ein solch konsequenter Schritt wie 1920 die Gründung Groß-Berlins ist in einer Demokratie leider nur sehr schwer möglich", sagt Bodenschatz. "Da sehen viele Institutionen einen Verlust an Zuständigkeiten und Geld, die Widerstände sind enorm." In der föderalen Bundesrepublik komme hinzu, dass nicht nur die Kommunen, sondern auch die Länder kein Interesse an einer allzu starken regionalen Ebene hätten.

"Auch nach 100 Jahren ist Groß-Berlin noch nicht richtig zusammengewachsen, denn dafür war kaum Zeit", sagt Bodenschatz. Erst nach dem Fall der Mauer habe es - nach mehr als 57 Jahren - wieder ein demokratisches Berlin gegeben, das in die Fußstapfen der 1920 gegründeten und nicht mal 13 Jahre lebendigen neuen Einheitsgemeinde treten konnte. "Die gemeinsame demokratische Suche nach einer neuen Identität dieses erneuerten Groß-Berlins ist mit den 31 Jahren seit 1989 noch lange nicht am Ende."

© SZ vom 07.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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