TSV 1860 München:Literatur für die Löwen

1860 Video-PK Screenshot

Revolution beim TSV 1860 München: Zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte veranstaltete der Klub eine digitale Pressekonferenz. Zugegen waren Günther Gorenzel, der Geschäftsführer Sport, und Trainer Michael Köllner (links).

(Foto: Löwen-TV/Youtube)

In der ersten Video-Pressekonferenz seiner Geschichte verkündet 1860 München als einer der letzten Drittligisten ein Kurzarbeit-Programm. Trainer Köllner versorgt seine Spieler mit Geschichten zum Nachdenken.

Von Philipp Schneider

Kurz bevor die Kamera in Richtung des Geschäftsführers Sport gedreht wird, erklingt die Stimme des Pressesprechers im Lautsprecher. Rainer Kmeth sitzt nah dran am Mikrofon, seine Stimme ist klar wie ein Gebirgsbach. "Ich begrüße Sie zum ersten Video-Pressegespräch in der zumindest mir bekannten Geschichte des TSV 1860 München."

Die Epidemie des wundersamen Coronavirus erweitert jeden Tag den Erfahrungshorizont der Menschheit. Am Donnerstag fügte sie nun auch der ohnehin bunten Historie des Fußball-Klubs an der Grünwalder Straße zwei Kapitel hinzu: Zum ersten Mal stellten sich Funktionsträger einer digitalen Pressekonferenz, zu der auch die Reporter per Webcam aus ihren Heimat-Büros zugeschaltet wurden. Und mit zeitlicher Verzögerung zu manch anderem Fußball-Drittligisten verkündete nun auch der TSV 1860, dass er für seine mehr als 60 Angestellten erstmals in seiner Geschichte einen Antrag auf Kurzarbeit gestellt hatte.

"Sicherheitsabstand!", ruft Geschäftsführer Günther Gorenzel zur Begrüßung in die Kamera. Währenddessen hüpft er mit seinem Stuhl ein paar Zentimeter zur Seite, also weiter weg von Michael Köllner, der später auch noch reden darf. Als Gorenzel schließlich zur Ruhe kommt, hat er zwei Kaffeetassen, zwei Colaflaschen, zwei Wasserflaschen und ein Mikrofon erfolgreich zwischen sich und den Löwentrainer gebracht. Man ahnt: Die Prinzipien des social distancing haben sie vorbildlich verinnerlicht bei Sechzig. Wo ja, anders etwa als beim FC Augsburg, seit Verkündung der bayernweiten Ausgangssperre der Trainingsbetrieb und auch der Ausschank im bundesweit bekannten Löwenstüberl einwandfrei zum Erliegen gekommen sind.

Er wolle zunächst einmal danke sagen, sagt Gorenzel. An all diejenigen, die in Zeiten der Ausgangssperre ihren systemrelevanten Beschäftigungen nachgingen, also den Mitarbeitern in den Supermärkten, bei der Polizei und im Gesundheitswesen. Selbstverständlich sei sich auch 1860 seiner gesellschafts- und gesundheitspolitischen Verantwortung bewusst. Es sei aber so: "Bei aller gesellschaftspolitischen Verantwortung müssen wir auch als Wirtschaftsunternehmen denken", teilte Gorenzel mit. Deshalb sei ein Modell aus Kurzarbeit und Aufstockung durch die KGaA erarbeitet worden, das für alle Mitarbeiter gelte - "egal ob aus Verwaltung oder Sport, ob Großverdiener, mittleres oder kleineres Einkommen. Es ist ein Modell, das die Solidarität im Klub unterstreicht!" Die Unterstreichung der Solidarität habe "deshalb auch einige Tage länger gedauert, bis das Ganze unter Dach und Fach war, weil es gemeinschaftlich erarbeitet wurde". Wie das Modell genau aussieht, wollte der 48-Jährige nicht sagen, nur so viel. "Keiner bekommt 100 Prozent." Dem Vernehmen nach bekommen alle 80 Prozent - und gedauert hat es eine Weile, weil die Zustimmung aus Mannschaftskreisen ausstand.

Die Kurzarbeit gelte, bis Trainings- und Spielbetrieb wieder "in den normalen Modus" übergehen. Wann es soweit sei, wisse er nicht. Die Lage sei unübersichtlich, teilweise werde die Verantwortung weitergeschoben. "Wir haben verschiedene Ansprechpartner: Es gibt das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege des Freistaats Bayern. Das Gesundheitsamt München. Und das Referat für Bildung und Sport." Auch für 1860 gelte demnach, was für alle Bundesbürger gilt in diesen ansteckenden Tagen: "Wir haben keinen Bescheid, wann wir wieder loslegen können."

Doch Gorenzel hat auch gute Nachrichten an diesem Tag. Derzeit hätten die Löwen kein Liquiditätsproblem. "Aber wir müssen planen, wie wir zukünftige Probleme auffangen können." Diesbezüglich seien vier Szenarien durchgespielt worden an der Grünwalder Straße; es gebe in der Gleichung noch zu viele Variablen. "Wir wissen nicht: Wann wird die Meisterschaft weitergespielt? Wie wird die Meisterschaft weitergespielt? In welchem Modus?" Gerade für einen Klub wie 1860, der bei seinen Heimspielen mit ausverkauftem Haus rechnen dürfe, bei dem die Ticketerlöse einen Großteil des Umsatzes ausmachen, sei die Aussicht auf drohende Geisterspiele nicht allzu umwerfend. "Ganz ehrlich: Ich mag das Wort Geisterspiele nicht. Nennen wir sie Spiele ohne Zuschauer. Es wird ja sicher nicht der Fall sein, dass Geister am Spielfeldrand rumlaufen - wie also können wir das kompensieren?", fragt Gorenzel. Eine naheliegende Lösung wäre, dass die Stadt München während der Geisterzeit im deutschen Fußball die Stadionmiete erlässt oder drastisch reduziert.

Auch der "Löwenfamilie" dankte der Geschäftsführer. Viele Fans hätten bereits signalisiert, dass sie das Geld aus den Saisontickets nicht zurückfordern werden. "Auch von Sponsoren haben wir positive Rückmeldungen. Aber hier ist es schwieriger, weil die Unternehmen selbst nicht genau wissen, was auf sie noch zukommen wird."

Und dann wird die Kamera noch auf Michael Köllner gerichtet.

Er habe inzwischen ein "deformiertes Ohr", berichtet der nach 14 Spielen noch immer unbesiegte Löwentrainer. Vom Telefonieren. "Denn zweimal die Woche spreche ich persönlich mit jedem Spieler." Damit die Mannschaft am "Tag X" fit sei, wenn der Ball wieder rollt, veranstalte er täglich um 12.30 Uhr eine Videokonferenz, bei der alle Spieler zugeschaltet sind. "Wir machen eine Fitnesseinheit, bei der wir zusammen schwitzen." Mittags absolviert jeder eine individuelle Laufeinheit. Und außerdem, sagt Köllner, schicke er jeden Tag eine Geschichte an seine Spieler zum Durchlesen. "Damit die Birne nicht abschaltet."

Damit die Birne seiner Spieler beim 1. FC Nürnberg nicht abschaltete, schenkte Köllner seinerzeit jedem Einzelnen den Roman Der Alchimist von Paulo Coelho. Seinen Löwen schickte Köllner am Donnerstag die Geschichte Beobachtungen einer Schneeflocke. Dabei gehe es um die Wahrnehmung von Menschen und ihren Gewohnheiten, woraus sich schließen lässt, dass es tatsächlich die Schneeflocke ist, die beobachtet und nicht umgekehrt.

Ob er wirklich jeden Tag eine Geschichte verschicke, wird Köllner gefragt. Aber ja, sagt Köllner. "Solang kann die Coronakrise gar nicht dauern, dass mir die Geschichten ausgehen."

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