Nach den Schließungen:Vorsichtig zurück zur Schule

Coronavirus  - Kassel

Abi in Sicht? Ein Plakat im März, an der Jacob-Grimm-Schule in Kassel.

(Foto: Uwe Zucchi/dpa)

Unterricht im Schichtbetrieb, häufigere Toilettenreinigung, Großzügigkeit bei Noten: Wie könnten die Schulen wieder öffnen? Die Länder arbeiten an verschiedenen Szenarien.

Von Paul Munzinger

Henrike Ansorge, 17, lernt gerade mehrere Stunden jeden Tag, ihr bleibt ja nichts anderes übrig. Am Mittwoch nach den Osterferien steht für sie die erste Abiturprüfung an, in Biologie. Zwei Tage später folgt Englisch, am 30. April Deutsch. Das ist, Stand jetzt, der Plan. Henrike Ansorge, die ein Gymnasium in Brandenburg an der Havel besucht, findet ihn "unverantwortlich". Warum, das hat sie in einem Offenen Brief an Brandenburgs Bildungsministerin ausgeführt. Erstens habe sie "kein Vertrauen", dass es gelingt, die Gesundheit von Lehrern und Schülern zu schützen. Und zweitens empfinde sie es als "höchst unfair", sie und ihre Mitschüler in Prüfungen zu schicken, auf die sie nicht ausreichend vorbereitet worden seien. "Trotz Engagement und gutem Willen auf allen Seiten zeigten die letzten beiden Wochen, dass der Präsenzunterricht in der Schule so nicht ersetzbar ist", findet Ansorge. Und dann ist da natürlich noch die Ungewissheit, ob die Termine überhaupt halten. "Das ist sehr belastend", sagt sie.

Bis zum 19. April sind die Schulen im Land geschlossen. Und dann? Nicht nur Abiturienten wie Henrike Ansorge befinden sich gerade in der unangenehmen Situation, sich auf einen Tag X vorbereiten zu müssen, von dem sie nicht wissen, wann er kommt. Auch den Kultusministerien bleibt nichts anderes übrig, als auf das Votum der Gesundheitsbehörden über das weitere Vorgehen zu warten. Es soll nach Ostern fallen. Bis dahin gilt es, Szenarien durchzuspielen: Was, wenn die Schulen wieder öffnen dürfen? Was, wenn nicht?

Susanne Lin-Klitzing, die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbands, hat den Kultusministern eine Hausaufgabenliste in die Osterferien mitgegeben. Sollten die Schulen tatsächlich vom 20. April an wieder öffnen, müssten die Hygienebedingungen besser sein als vor der großen Corona-Pause, fordert sie. Die Länder müssten etwa prüfen, ob die Toiletten häufiger gereinigt oder Desinfektionsmittel bereitgestellt werden müssten, und ob es genug "funktionierende Waschbecken" gebe. Wer solche "Mindeststandards" formuliert, hat eher keine gute Meinung von der hygienischen Gesamtlage an den Schulen.

In Nordrhein-Westfalen gab es in diesem Jahr schon mal keine Blauen Briefe

Dass diese nach Ostern wieder für alle öffnen werden, gilt ohnehin als wenig wahrscheinlich. Es sei "unrealistisch, anzunehmen, dass am 20. April die Schulen im Land wieder von Null auf Hundert in den regulären Schulbetrieb starten können", sagt Baden-Württembergs Bildungsministerin Susanne Eisenmann (CDU). Als Alternative bringt sie auch eine Art Schichtbetrieb ins Spiel. An den Grundschulen könnten sich die Klassen etwa tageweise abwechseln, an den weiterführenden Schulen erstmal nur die Abschlussklassen zurückkehren. Mit einem schrittweisen Wiedereinstieg beschäftigen sich auch andere Bundesländer - als eines von vielen Szenarien, wie stets betont wird.

Für viele Schüler dürfte sich die aktuelle Situation also auch nach den Ferien fortsetzen - mit allen Problemen, die das mit sich bringt. Aus den Kultusministerien hört man zwar, das Homeschooling laufe erstaunlich gut, manchmal versehen mit dem selbstkritischen Zusatz, dass die Politik daran keinen großen Anteil habe. Doch klar ist: Das Lernen zu Hause gelingt vor allem jenen Kindern gut, deren Umfeld gut ist - wo aber das W-Lan hakt oder die Arbeitsblätter wegen mangelnder Deutschkenntnisse Rätsel aufgeben, sieht es oft anders aus. Diese Kinder drohen zurückzufallen - umso weiter, je länger die Schule ausfällt. Heinz-Peter Meidinger, Chef des Deutschen Lehrerverbands, warnt davor, das Homeschooling zu lange durchzuziehen. Aber auch er weiß natürlich, dass die Pädagogik gegen die Medizin derzeit schlechte Chancen hat.

Dazu kommt die heikle Frage, was bleiben darf von diesem Halbjahr: Können die zu Hause erledigten Aufgaben benotet werden? Die Bundesländer - sonst mittlerweile schwer um Einheitlichkeit in der Krise bemüht - sind sich in dieser Frage gar nicht einig. Die meisten Länder, etwa Bayern und Nordrhein-Westfalen, erheben keine Noten, es gehe ums Üben und Wiederholen. Niedersachsen stellt sogar klar, dass der Unterricht "ersatzlos" entfalle und alle durch die Schule gestellten Aufgaben "freiwilligen Charakter" hätten. Niedersachsens Lehrer sind angewiesen worden, zum 15. April für alle Schüler vorläufige Noten zu ermitteln. "Diese Noten bilden kein vorgezogenes Zeugnis", ergänzt das Ministerium zur Sicherheit. Man bereite sich auf "alle denkbaren" Szenarien vor - auch darauf, dass bis Sommer gar kein Unterricht mehr stattfinden kann.

Das Kultusministerium in Sachsen-Anhalt dagegen teilt mit, der Unterricht werde "mit den gegebenen Möglichkeiten fortgesetzt, das schließt auch Leistungsbewertungen ein". Corona schützt hier vor Noten nicht. Sitzenbleiben können Schüler übrigens in allen Bundesländern. Wer auf der Kippe stehe, dürfe aber mit besonderer Milde rechnen, hört man vielfach. In Nordrhein-Westfalen haben versetzungsgefährdete Schüler in diesem Jahr jedenfalls keine Blauen Briefe bekommen.

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Apropos heikle Fragen: Bayern sah sich unlängst genötigt, die im Internet kursierende Nachricht wieder einzufangen, die Sommerferien seien verkürzt worden. Tatsächlich handelte es sich um den Aprilscherz eines Vaters, der seine Kinder reinlegen wollte. Doch bei aller Empörung über solche "unverantwortlichen" Aktionen (Bayerns Kultusminister Michael Piazolo): Wer nichts ausschließen kann, kann natürlich auch dieses Szenario nicht ausschließen. Aber offen zugeben will das niemand, Eltern und Schüler sind schon angespannt genug - wie nicht zuletzt der Erfolg dieses Aprilscherzes belegt.

Auch das Machtwort der Länder in Sachen Abitur - Die Abschlussprüfungen finden statt! - steht unter medizinischem Vorbehalt und könnte von der viel beschworenen dynamischen Entwicklung als Ohnmachtswort entlarvt werden. Was aber dafür spricht, dass die (vielerorts schon geänderten) Zeitpläne standhalten: Abschlussprüfungen können auch in ansonsten geschlossenen Schulen stattfinden. Hessen hat das schriftliche Abitur so jüngst ins Ziel gebracht, mit einer nur geringfügig gesunkenen Beteiligungsquote von 96 Prozent. "Ein wenig Normalität in besonderen Zeiten", kommentierte das Ministerium.

Auch im Rest des Landes sollten sich die Abiturienten also trotz allem auf die Prüfungen einstellen - auch wenn das vielen gar nicht gefällt. Es gibt Proteste, Petitionen und viel Verunsicherung. "Wir Schüler fühlen uns nicht gehört", sagt Henrike Ansorge, die Abiturientin aus Brandenburg. Eine Schülerin aus Hessen versuchte sogar vor Gericht, sich vom Abitur freistellen zu lassen. Ihr Antrag wurde abgelehnt.

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