Ein Vater und sein Sohn:Friedrich kann glücklich sein

Florian Jaenicke fotografiert seinen schwerbehinderten Sohn, um ihn besser zu verstehen. "Wer bist Du?" ist die berührende Liebeserklärung eines Vaters.

Von Thorsten Schmitz

Im Auto von Florian Jaenicke liegt seit 15 Jahren eine Mundharmonika, im Handschuhfach. Sie stammt aus Indien. Nur im Winter, wenn Eis auf der Windschutzscheibe klebt und Jaenicke den Kratzer sucht, betrachtet er sie. Vor fünfzehn Jahren war der Münchner Fotograf in Indien auf einer Reportagereise, seine Frau war damals schwanger. In einem Zug hatte Jaenicke nachts einen Jungen gesehen, der auf einer Mundharmonika spielte. Die Musik hatte Jaenicke derart betört, dass er eine kaufte - sein Sohn Friedrich sollte auch einmal auf einer spielen.

Bis heute hat Friedrich keinen einzigen Ton auf der Mundharmonika gespielt. Aber er liebt Musik. Gerade hat er seinen 15. Geburtstag gefeiert. Sein Vater und seine Mutter haben ihm eine Platte von Carla Bruni geschenkt. Wenn Friedrich Lieder von Bruni hört oder von den Beatles, beginnt er zu lächeln, seine Mimik entspannt sich. Er wirkt dann beseelt. "Ein Musikinstrument, das nicht klingt, ist in gewissem Sinne wie ein Mensch, der nicht spricht", schreibt Jaenicke in seinem berührenden, aufwühlenden, tröstlichen Fotobuch "Wer bist du?".

Neben dem Satz ist ein Foto, das Friedrich an seinem ersten Geburtstag zeigt, auf dem Schoß seiner Mutter, die ihm die indische Mundharmonika an den Mund hält. Das Buch ist eine Offenbarung und die Liebeserklärung eines Vaters an seinen Sohn, von dem die Eltern nicht genau wissen, was er denkt, was er sieht, was er fühlt. Friedrich ist mit Sauerstoffmangel zur Welt gekommen.

Der Vater hat seinen Sohn nicht fragen können, ob er mit der Publikation einverstanden ist

Was die Ursachen waren für den Sauerstoffmangel, wissen die Eltern nicht, sie werden es nie erfahren. Friedrich ist mehrfach schwer behindert, er kann nicht gehen, sich nicht alleine im Bett umdrehen, er kann nicht sprechen, er kann einem nicht in die Augen schauen, und er bekommt regelmäßig epileptische Anfälle. Manche Kinder, schreibt Jaenicke, könnten mit Friedrich nichts anfangen und nörgelten: "Der kann ja nichts." Sein Vater sagt dann: "Doch. Glücklich sein." Wer Friedrich kennenlernt, spürt, dass das stimmen mag. Denn sein umwerfendes Lächeln sagt: "Mir geht es gut."

"Wer bist du?, Aufbau Verlag

In seinem Buch "Wer bist du?" porträtiert Florian Jänicke seinen schwerbehinderten Sohn Friedrich in Wort und Bild, hier beim gemeinsamen Bad.

(Foto: Florian Jaenicke)

Seit seiner Geburt hat Florian Jaenicke seinen Sohn fotografiert, auch, um sich ihm anzunähern, ihn besser zu verstehen. Das Faszinierende an den Fotos: Der Vater reduziert seinen Sohn nicht auf einen Befund. Er zeigt: ein Kind, seinen Sohn, beim Aufwachsen. Ein Jahr lang hat das Zeit-Magazin jede Woche ein Foto von Friedrich veröffentlicht, dazu wenige Sätze seines Vaters. Die Serie hat sehr viele Menschen in Deutschland berührt, jetzt ist ein Buch daraus geworden.

Friedrich hat das Leben seiner Eltern komplett verändert. Alle Pläne, alle Hoffnungen, alle Vorstellungen haben sie verwerfen und angleichen müssen, und vielleicht ist dieses Buch sogar die beste Lektüre in der Corona-Krise, die einen lehrt, dass man sein Leben durchplanen kann - dass das Leben einen aber immer wieder vor ungeplante Tatsachen stellt.

Auf manchen Fotos, die Jaenickes Buch zeigt, ist die schwere Behinderung Friedrichs unübersehbar. Zum Beispiel auf jenem, das Friedrich in einem Stehständer zeigt, ein "merkwürdiges Gerät voller Schnallen und Schrauben", wie Jaenicke mit leisem Humor schreibt, "es erinnert einen an die spanische Inquisition". Die meisten Bilder aber zeigen seinen Sohn im Alltag, bei der Friseurin, die ihm einen schicken Haarschnitt verpasst, in einem Swimmingpool, wie er gerade von seiner Mutter hochgeworfen wird, sein Gesicht dabei ein einziges Lächeln, oder bei der Eröffnung einer Modefotografieausstellung.

In "Wer bist du?" beschreibt Florian Jaenicke die schönen Momente, wenn Friedrich in den Haaren des Vaters krault, und er kann sich über die Frau aufregen, die ihm in einem Kurs sagt, in dem er als einziger Mann unter elf Frauen kraftsparendes Hochheben von Bettlägrigen lernt: "Das muss ja furchtbar sein, besonders für ihre Frau." Auch Männer, erregt sich Jaenicke, als er diese Szene beschreibt, haben Gefühle - und wehrt sich gegen "diesen mütterlichen Gefühlshoheitsanspruch".

"Wer bist du?, Aufbau Verlag

Als "ein merkwürdiges Gerät voller Schnalle und Schrauben" erscheint dem Vater das Stehgerät seines Sohnes.

(Foto: Florian Jaenicke)

Das bezaubernde, verzaubernde Buch ist eine Liebeserklärung eines Vaters an seinen Sohn, den er nicht hat fragen können, ob er einverstanden ist, dass Fotos von ihm veröffentlicht werden. Was der Vater aber weiß: Friedrich liebt Schweinebraten, die Stimme von Carla Bruni und das gelbe Plastikbärchen, das an einem Gummi über seinem Bett hängt, und das Friedrich stundenlang anstupsen kann.

Das Buch ist besonders berührend, weil hier ein Vater sein Herz öffnet. Ein Vater, der von seinen Tränen im Badezimmer schreibt und von der Traurigkeit, die ihn manchmal erfasst, dass Friedrich nie "Papa" oder "Mama" sagen wird. Viele Familien, schreibt er, trennten sich, wenn ein Kind nicht gesund auf die Welt komme. Ihn und seine Frau aber habe Friedrich zusammengeschweißt. "Und natürlich gibt es auch Zeiten, in denen wir den anderen auf den Mond schießen wollen. Aber wir sind zusammen - welch ein Glück." Glück sei immer dort, schreibt Jaenicke, "wo Liebe ist".

Florian Jaenicke: Wer bist Du? Unser Leben mit Friedrich. Aufbau Verlag, Berlin 2020. 176 Seiten mit 52 Abbildungen, 24 Euro.

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