Suchtkranke:"Die Leute steigen wieder auf Spritzen um"

Coronavirus - Frankfurt am Main

Eine drogensüchtige Frau kauert im Frankfurter Bahnhofsviertel vor dem Konsumraum der Integrativen Drogenhilfe.

(Foto: Arne Dedert/dpa)

Für Drogenabhängige ist das Coronavirus lebensgefährlich. Tobias Fechner, Leiter einer Methadonambulanz, befürchtet eine Katastrophe.

Interview von Fabian Müller

In Kliniken werden Suchtstationen zu Corona-Stationen umgebaut, Konsumräume und Beratungsstellen müssen schließen, auf dem Schwarzmarkt gibt es kaum mehr Drogen, weil die Grenzen dicht sind. Suchtkranke stehen vor gewaltigen Problemen. Einen kalten Entzug würden sie kaum überleben, auch eine Infektion mit Covid-19 wäre lebensbedrohlich. Tobias Fechner, 40, leitet die Methadonambulanz der Krisenhilfe Bochum.

SZ: Herr Fechner, können Sie in Ihrer Einrichtung noch normal arbeiten?

Tobias Fechner: Die Situation ist schwierig. Wir haben verschiedene Angebote, eine Beratungsstelle, die Drogenprävention, niedrigschwellige Angebote, eine Substitutionsausgabe, einen Kontaktladen, einen Konsumraum. Nahezu alles mussten wir einschränken, einiges schließen, das Übertragungsrisiko ist einfach zu groß. Die Substitution bleibt aber offen, wir müssen die Leute weiterhin versorgen.

Wie schützen Sie sich, Ihre Mitarbeiter und die Patienten vor dem Virus?

Die Methadonambulanz ist in größere Räume gezogen, wir haben wie in Supermärkten Marker auf den Boden geklebt, damit die Leute Abstand halten. Einer von uns macht jetzt den Türsteher, guckt, dass nicht mehr als fünf Leute reinkommen. Wir tragen alle Arztkittel, Mundschutz, Handschuhe, die Mitarbeiter an der Anmeldung und bei der Methadonvergabe sitzen hinter einer Plexiglasscheibe. Und unsere Ärzte geben allen, bei denen man das vertreten kann, das Substitut als Take-Home mit, für bis zu zwei Wochen. Damit sie möglichst selten kommen.

Welche Möglichkeiten für die Betreuung haben Sie aus der Distanz noch?

Wir wollen in all unseren Angeboten erreichbar bleiben, zumindest telefonisch. Aber viele Patienten haben keinen Zugang zu Telefonen oder dem Internet. Wir denken darüber nach, einen Beratungsraum einzurichten, mit Spritzschutz.

Von welchen Problemen berichten die Suchtkranken Ihnen derzeit?

Dass sie kein Geld mehr machen können. Dass sie nicht wissen, wie sie einen Antrag auf Kurzarbeit ausfüllen sollen. Dass sie auf den Ämtern die Leute nicht mehr erreichen. Wir versuchen, sie medizinisch zu versorgen, das ist das Wichtigste. Alles andere muss hintenanstehen.

Wie würden Sie die aktuelle Situation der Drogenszene beschreiben?

Es spitzt sich zu. Schon jetzt gibt es in einigen Städten auf der Straße kaum noch Heroin zu kaufen. Ein gutes Beispiel für die derzeitige Situation sind auch Benzodiazepine, die häufig als Beikonsum, also zusätzlich zum Drogenersatzstoff genommen werden. Das hat bisher einen Euro pro Tablette gekostet, wenn man zehn Stück gekauft hat, hat man zwölf vom Dealer bekommen. Zuerst ist der Rabatt weggefallen, dann wurden die Preise pro Tablette auf 1,50 Euro angehoben, mittlerweile auf zwei Euro. Man merkt, dass die Grenzen geschlossen sind. Und die Dealer gehen weniger raus.

Wieso?

Das Risiko, erwischt zu werden, ist für sie gestiegen - es fällt jetzt einfach eher auf, wenn eine Personengruppe zusammensteht. Wenn die Leute entzügig sind und mitbekommen, dass einer Stoff hat, laufen die direkt auf den Dealer zu und umringen den. Für die Suchtkranken ist die Situation schon jetzt grauenhaft. Und ich befürchte, dass es noch ganz, ganz schlimm wird.

Nahezu täglich werden gerade milliardenschwere Hilfspakete beschlossen. Werden Drogensüchtige dabei vergessen?

Es gibt einfach weniger Drogenabhängige als beispielsweise alte Leute, natürlich wird sich da jetzt erst mal um Altersheime und Krankenpflege gekümmert. Aber dass Drogenhilfeeinrichtungen wenigstens mal erwähnt werden, habe ich noch nicht mitbekommen. Es gibt einfach immer noch einen Teil der Gesellschaft, der für Suchterkrankungen kein Verständnis hat und denkt, die Leute hätten es sich so ausgesucht und seien selbst schuld.

Suchtkranke: Tobias Fechner, 40, leitet die Methadonambulanz der Krisenhilfe Bochum. Davor arbeitete er sieben Jahre in Essen in der niedrigschwelligen Drogenhilfe.

Tobias Fechner, 40, leitet die Methadonambulanz der Krisenhilfe Bochum. Davor arbeitete er sieben Jahre in Essen in der niedrigschwelligen Drogenhilfe.

(Foto: privat)

Immer öfter schließen jetzt auch die Konsumräume, obwohl es eine Empfehlung der Ministerien gibt, diese offen zu halten. Warum?

Es ist immer die Frage, ob es genügend Schutzkleidung gibt. Und wenn jemand beatmet werden muss, eine Herzdruckmassage braucht, habe ich oft gar nicht die Möglichkeit, mich zu schützen. Deswegen muss das von Stadt zu Stadt überprüft werden, ob so ein Raum offen bleiben kann.

Und wenn zugesperrt wird?

Ein Erfolg von Drogenkonsumräumen ist, dass die Konsumenten in einem geschützten Rahmen vom relativ risikoreichen intravenösen Konsum auf den nicht so risikoreichen inhalativen umsteigen. Auf der Straße ist es aber einfach nicht möglich, den aufsteigenden Rauch schnell genug einzuatmen. Das dauert etwa 20 bis 30 Minuten, spritzen vielleicht zehn Sekunden. Ich fürchte, wenn die Konsumräume geschlossen werden, steigen mehr Leute wieder auf Spritzen um.

Gibt es weitere drängende Probleme?

Mir graut es davor, dass die Leute mit Abszessen oder anderen Verletzungen daheimsitzen. Die kennen das ja nicht, sie wurden immer versorgt. Ich bin gespannt, ob die Krankenhäuser die Kapazitäten haben und die Leute überhaupt den Weg ins Krankenhaus schaffen. Therapievermittlung ist auch kaum mehr möglich. Es gibt die ersten Entgiftungseinrichtungen, die nicht mehr aufnehmen. Sie müssen die Betten drastisch reduzieren, weil die Patienten nicht mehr zu zweit oder dritt auf einem Zimmer sein können. Und wenn es in der Szene gar kein Heroin mehr zu kaufen gibt, müssen sich die Städte darauf einstellen, dass es vermehrt Bedarf gibt an Substitution. Dabei herrscht jetzt schon ein Mangel an Plätzen in Substitutionseinrichtungen

Das Gesundheitsministerium prüft die Möglichkeit, Heroinabhängige in den ambulanten Drogenhilfen zu behandeln. Wäre das eine Lösung?

Das ist die einzige Lösung. Man kann ja nicht sagen, man fördert den Heroinschmuggel. Deswegen ist das sicherlich der schnellste Weg, die Leute in Behandlung zu bekommen, dass man sie über Apotheken oder die Gesundheitsämter mit Ersatzstoffen versorgt.

Und wenn diese Pläne scheitern?

Ganz viele würden versuchen, auf andere Substanzen umzusteigen. Viele werden versuchen, sich Benzodiazepine von Ärzten verschreiben zu lassen, soweit die Praxen überhaupt auf sind. Und sobald man auch da schlecht rankommt, ist das gängige Mittel Alkohol. Viele werden anfangen, heftig zu trinken, um den Entzug zu überstehen. Die werden dann mit Alkoholvergiftungen in Kliniken landen oder sogar sterben.

Was muss jetzt passieren, damit Suchterkrankte die Krise bestmöglich überstehen?

Ganz essenziell ist, dass wir den Kontakt zu den Menschen nicht verlieren. Es ist wichtig, dass die Auflagen heruntergefahren werden und eine niedrigschwellige Substitution angeboten wird. In Holland bekommen Substituierte beispielsweise Chipkarten. Da fährt dann ein Fahrdienst herum und gibt Methadon aus. Die Auflagen in Deutschland sind sehr streng, die deutsche Bürokratie ist da nicht die einfachste. Wir haben alles Mögliche geprüft: längerfristige Rezepte schreiben für Leute, die dafür eigentlich nicht berechtigt sind, oder ob wir Patienten Methadon bringen dürfen, die mit Corona daheim liegen. Sie werden ohne den Ersatzstoff die Quarantäne nicht durchhalten, weil sie alles Mögliche probieren werden, um den Entzug abzumildern.

Was wissen Suchtkranke über das Coronavirus?

Viele haben den Ernst der Lage nicht verstanden. Sie kriegen vielleicht mit, dass sie im Supermarkt jetzt Abstand halten müssen. Von den Todeszahlen auf der ganzen Welt wissen sie nichts, viele haben keinen Fernseher, kein Internet und auch nicht unbedingt ein Handy. Bei denen dreht sich der Tag darum, dass sie Geld beschaffen und damit Drogen.

Die Zahl der Drogentoten ist im vergangenen Jahr um rund zehn Prozent gestiegen. Befürchten Sie, dass die Zahl durch die Corona-Krise weiter steigt?

Es wird eine Katastrophe, wenn Corona in der Szene ankommt - und das wird es. Dann wird es sich rasant verbreiten. Unsere Leute sind eine der Hauptrisikogruppen. Viele sind vorerkrankt, viele haben die Lungenkrankheit COPD. Dazu kommt, dass sie eine mögliche Erkrankung nicht spüren würden, so sediert sind sie. Methadon und Polamidon sind Schmerzmittel, die Symptome werden sie gar nicht wahrnehmen. Das bedeutet, die kommen ins Krankenhaus, wenn es fünf vor zwölf ist. Der prozentuale Anteil der Personen, die sterben, wird hoch sein.

Und wie gehen die Suchtkranken selbst mit der Gefahr um?

Bei vielen ist das gängige Mittel im Umgang mit Problemen die Verdrängung. Ich höre Sprüche wie: "Ich bin so hart, Corona kann mir nichts", oder "Ich hab so viele Drogen intus, die töten eh alles ab".

In der Bevölkerung gibt es gerade viele Gesten der Dankbarkeit gegenüber Ärzten, Krankenpflegern, Kassierern oder Lkw-Fahrern. Vermissen Sie das für Ihren Job?

Ich bin schon so lange in diesem Beruf, dass ich genau weiß: Die meisten Leute halten das Thema Sucht für eine Randerscheinung. Viele verstehen gar nicht, was wir da an gesellschaftlichen Folgen abfedern, indem wir Kosten für Krankenhaus- oder für JVA-Aufenthalte verhindern. Indem wir es hinkriegen, dass Mieten gezahlt werden, wo es sonst Räumungsklagen gibt. Und, und, und. Das wird einfach nicht gesehen. Natürlich ist das ein bisschen schade. Ich erwarte keine Dankbarkeit, aber ich erwarte vielleicht doch, dass das respektiert wird.

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