Über Lebenskunst:Gegen die Distanz

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Sophie Scholl, Widerstandskämpferin gegen das nationalsozialistische Regime, führte einen intensiven Briefwechsel mit ihrem Freund Fritz Hartnagel. (Foto: imago images)

Im Augenblick werden wieder mehr Briefe geschrieben - Zeit, auch historische zu lesen: Etwa den Briefwechsel zwischen Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel.

Von Agnes Striegan

Im Winter der Weltkriegsjahre 1942 bis 1943 war der Berufsoffizier Fritz Hartnagel in Stalingrad eingekesselt; seine Freundin Sophie Scholl verbreitete unterdessen in München Flugblätter gegen das nationalsozialistische Regime. In sechs Jahren hatten die beiden sich gut 400 Briefe geschrieben, kurze Grüße, freundliche Neckereien, lange philosophische Abhandlungen. Sophie Scholls letzten Brief erhielt Fritz Hartnagel im Februar 1943 im Lazarett in Lemberg; er war gerade so mit erfrorenen Fingern aus Stalingrad ausgeflogen worden. Sophie Scholl war da bereits tot, hingerichtet wegen Hochverrats und Feindbegünstigung, zusammen mit ihrem Bruder Hans Scholl und Christoph Probst. Ihr Schicksal teilten wenige Monate später Alexander Schmorell, Willi Graf und Kurt Huber; damit lebte der Kern der Weißen Rose nicht mehr. Fritz Hartnagels Antwort auf ihren letzten Brief erreichte Sophie Scholl nie.

Briefe werden aktuell wieder mehr geschrieben. Räumliche Entfernung fühlt sich heute vielleicht überwindbarer an als vor 80 Jahren. Die Konferenz, der Kaffeeklatsch oder der Clubbesuch über Video werden zur Gewohnheit, es gibt Whatsapp, Facebook, Instagram, Snapchat. Einen Brief in der Hand zu halten, ist trotzdem etwas anderes.

Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs heiratete Fritz Hartnagel Sophie Scholls ältere Schwester Elisabeth; zu ihr hatte sich nach Sophies Tod eine eigenständige Liebesbeziehung entwickelt. Ihr Sohn Thomas Hartnagel veröffentlichte vor knapp acht Jahren den Briefwechsel zwischen Sophie Scholl und Fritz Hartnagel, als Lese-Edition, aber mit geschichtlichen Anmerkungen. Und nicht ohne Bedenken: Sein Vater hatte sich nie im Ruhm der Weißen Rose sonnen wollen; Sophie Scholls Briefe und seine Antworten waren für ihn immer privat gewesen. Dennoch ist gut, dass ihre Briefe gerade jetzt der Öffentlichkeit zugänglich sind.

Es sind bewegende Briefe, historische Zeugnisse aus der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs, vom Leben unter der nationalsozialistischen Diktatur. Sie enthalten Kluges: "Wenn Du nämlich gar nicht weißt, was anfangen, dann mußt Du immer was nettes für andre tun, die Zeit reut Dich dann nicht", schreibt Sophie Scholl Fritz Hartnagel in der Vorweihnachtszeit 1939. Zugleich sind die Briefe von einer ungewöhnlichen literarischen Prägnanz, vor allem Fritz Hartnagels. Und sie sind, so seltsam es klingen mag, beruhigend: weil sich die Dinge darin langsam entwickeln; weil sich die Schreibenden Zeit nehmen, Alltägliches zu erzählen, vermeintliche Kleinigkeiten wie den Vogel vor dem Fenster oder die wärmende Sonne, Gedanken auszuprobieren. Das liest sich wohltuend jetzt, wo viele Menschen lange Zeit drinnen verbringen, vermutlich zu lange auf Bildschirme starren und sich wünschen, mal wieder etwas anderes zu sehen.

Sophie Scholl und Fritz Hartnagel ringen in ihren Briefen und in ihrem Leben beständig darum, unter widrigsten Umständen ihre Fähigkeit zu unabhängigem Denken und verantwortlichem, teils politischem Handeln zu bewahren.

Und sie ringen um ihre Beziehung. Sophie Scholl verliebte sich in Fritz Hartnagel, da war sie sechzehn; ihre ersten Briefe sind die eines Schulmädchens. Nach und nach werden sie ernsthafter, tiefgründiger. Nah stehen sich die beiden immer, aber die Sicherheit, die Fritz Hartnagel sucht, kann ihm Sophie Scholl nicht geben: sie sehnt sich zu sehr nach Unabhängigkeit. Also wechseln sich Intimität und Distanz, Vertrautheit und Verständnislosigkeit ab. Und während ihre Beziehung wächst, ungerade, aber doch beständig, wachsen auch Sophie Scholl und Fritz Hartnagel selbst: Im Laufe der Jahre entwickelt sich Fritz Hartnagel vom Wehrmacht-Begeisterten zum kritischen Offizier, Sophie Scholl wird von der Bund Deutscher Mädel-Führerin zur Widerstandskämpferin.

Durch die Briefe lassen sich Sophie Scholl und Fritz Hartnagel als die komplexen jungen Menschen kennenlernen, die sie waren - und als irgendwie, trotz allem, normal.

Sophie Scholl, Fritz Hartnagel: Damit wir uns nicht verlieren. Briefwechsel 1937-1943. Herausgegeben von Thomas Hartnagel. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2008. 496 Seiten, 19,99 Euro.

© SZ vom 15.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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