Philosophie:Zivilisationsmüde Gegenwartskritik

Thomas Vašek über den italienischen Philosophen Carlo Michelstaedter und seinen Einfluss auf Heidegger.

Von Thomas Meyer

Die Bitte um genaue und vorurteilslose Lektüre setzt Thomas Vašek, Herausgeber der Zeitschrift "Hohe Luft", nicht ohne Grund an den Anfang seines Buches über Martin Heidegger und seinen vermeintlichen Ideenlieferanten, den italienisch-jüdischen Philosophen und Künstler Carlo Michelstaedter. Seitdem 2014 der erste Band von Notaten Heideggers in den sogenannten "Schwarzen Heften" publiziert wurde, steht jede Veröffentlichung über den Philosophen vor der Frage: "Wie hältst Du es mit seinem Antisemitismus"? Vašek selbst hatte an der Debatte regen Anteil genommen und dabei einen berühmten Satz von Jürgen Habermas aus dem Jahr 1953 korrigiert. Es sei nicht länger "mit Heidegger gegen Heidegger" zu denken, sondern von nun an gänzlich ohne ihn.

Aber so ganz traute Vašek seiner eigenen Auffassung wohl doch nicht. Nachdem er in der FAZ Heidegger Lektüre des faschistischen Esoterikers Julius Evola (1898-1974) belegen konnte, glaubte er eine Spur zu haben, welche die Wiederlektüre des Verstoßenen lohnend erscheinen ließ. Im Angebot hat Vašek nun Michelstaedter, dem Evola einen hohen Einfluss auf seine eigenen Schriften zuschreibt und von dessen einzigem Buch Vašek eine deutsche Teilübersetzung entdeckt hat. Könnte es also nicht sein, dass Heidegger Michelstaedter gelesen hatte? Und nicht nur das!

Wer aber war Carlo Michelstaedter, dessen Geschichte nicht anders als tragisch bezeichnet werden kann? Offenkundig hochtalentiert, setzt der 1887 geborene Sohn eine bildungsbürgerliche Familie im Jahr 1910 seinem Leben mit einer geliehenen Pistole ein Ende, womöglich nach einer Auseinandersetzung mit seiner später in Auschwitz ermordeten Mutter. Drei Jahre später legen Freunde seine abgeschlossene Dissertation der Öffentlichkeit vor. Im Mittelpunkt der Studie stehen philologisch-kulturkritische Deutungen ausgewählter Stellen aus den Werken von Platon und Aristoteles. 1922 wird die Ausgabe um drei gewichtige, systematisierende "Anhänge" erweitert. Gleich nach Michaelstaedters Tod setzt eine breite Rezeption ein, die rasch die USA erreicht und in Italien bis heute zahlreiche, oft wunderliche Blüten treibt. Eine deutsche Teilübersetzung der Dissertation erschien 1999 unter dem Titel "Überzeugung und Rhetorik". Doch erst in jüngster Zeit interessiert man sich dank der Münchner Germanistin Yvonne Hütter hierzulande ein wenig für Michelstaedter.

Vašek ist bei weitem nicht der Erste, der Michelstaedter mit Heidegger in Verbindung bringt, wie sein klug und redlich argumentierendes Buch selbst ausweist. Und ab dem vierten Kapitel lohnt die Lektüre unbedingt, denn ab da geht es um den Textvergleich. Hier wird denn auch weniger eine Linie zwischen Michelstaedter und Heidegger konstruiert, als vielmehr die Aufladung von Heideggers Begrifflichkeit mit dem zugleich zivilisationsmüden und gegenwartsabwertenden Duktus einer gelehrt-modernistischen Sprache deutlich gemacht. Insofern ist Vašeks Arbeit ein gewichtiger Beitrag zu den verdeckten geistigen Wurzeln des Seinsdenkers.

Bei der Freude um die Ausgrabung sollte aber keineswegs vergessen werden, dass mit Susanne Möbuß' Studie über Heidegger und Franz Rosenzweig (Alber Verlag, Freiburg 2018) eine außerordentlich anregende Alternative vorliegt. War also Heidegger ausgerechnet durch die beiden jüdischen Philosophen nicht nur beeinflusst, sondern folgte gar ihren philosophischen Programmen? Auch das noch, möchte man da ausrufen!

Thomas Vašek: Schein und Zeit. Martin Heidegger und Carlo Michelstaedter. Auf den Spuren einer Enteignung. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019. 318 Seiten, 28 Euro.

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