Türkei:Gnadenloser Gnadenakt

Die einen dürfen das Gefängnis wegen Corona-Ansteckungsgefahr verlassen, die anderen Häftlinge hingegen nicht: Die Chance auf einen Neuanfang in unerhört schwierigen Zeiten und etwas mehr an politischem Miteinander wird gerade vertan.

Von Tomas Avenarius

Wegen der Corona-Gefahr in den überfüllten Gefängnissen lässt die Türkei Zehntausende Häftlinge frei. Es ist keine Amnestie im klassischen Sinne. Aber ob es sich wirklich um eine sogenannte Justizreform handelt oder angesichts der Covid-19-Ansteckungsgefahr nur um eine unvermeidliche Notmaßnahme, sei dahingestellt: Das Ganze hat etwas von einem Gnadenakt. Und den politschen Häftlingen wird er verweigert.

Zwar müssen auch Schwerstkriminelle wie Mörder, Vergewaltiger oder Drogenhändler in der Zelle bleiben. Aber wenn eine Gruppe wie "die Politschen" ausgenommen bleibt, kann das von den Betroffenen und auch von der Öffentlichkeit nur als Verweigerung des Gnadenaktes in lebensgefährlichen Zeiten verstanden werden.

In der Türkei stehen sich die politischen Lager seit dem Putschversuch von 2016 noch unversöhnlicher gegenüber als früher. In den Gefängnissen sitzen Tausende, gegen die Putsch- und Terrorvorwürfe erhoben werden, die sich oft genug nicht stichhaltig belegen lassen. Die Globalplage Corona könnte also ohne falsche Romantik als Chance begriffen werden: für einen Neuanfang in unerhört schwierigen Zeiten, für etwas mehr an politischem Miteinander und sogar für etwas mehr an Menschlichkeit. Diese Chance wird gerade vertan.

© SZ vom 16.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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