Schwangerschaftsabbrüche und Corona:"Wir müssen jetzt Frauenleben retten"

Kristina Hänel

Ärztin Kristina Hänel

(Foto: Boris Roessler/dpa)
  • Immer weniger Ärzte nehmen Schwangerschaftsabbrüche vor.
  • Dieser Zustand wird durch die Corona-Krise verstärkt. Viele Ärzte, die Abtreibungen durchführen, gehören aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe.
  • Schwangere könnten deshalb einen Abbruch verschieben. Doch je später eine Schwangerschaft beendet wird, desto größer ist das Risiko.

Von Anna Fischhaber

Michael Spandau ist in Niederbayern berühmt. Es gibt zahlreiche Artikel über ihn. "Der Letzte, der es wagt, abzutreiben", titelte im Januar noch der Berliner Tagesspiegel über den Gynäkologen aus Passau. Der Arzt war lange die einzige Anlaufstelle für ungewollt Schwangere in Niederbayern, das immerhin 1,2 Millionen Einwohner hat.

Seit Jahren will Spandau in Rente gehen, nun hat er seinen Abschied, eigentlich erst für Sommer geplant, vorgezogen, informiert die Beratungsstelle der Pro Familia in Niederbayern. Der Arzt selbst ist im Ruhestand nicht mehr zu erreichen. Seit die Pandemie Deutschland im Griff hat, gehört der 71-Jährige schon aus Altersgründen zur Risikogruppe, der Kontakt zu den Patientinnen kann für ihn gefährlich sein. Einen Nachfolger hat er nicht. Für betroffene Frauen heißt das: Nur in Landshut, 120 Kilometer von Passau entfernt, gibt es noch einen Arzt, der Schwangerschaften beendet. Wer die neunte Woche überschritten hat, muss noch 50 Kilometer weiter bis nach München reisen.

Schon unter normalen Bedingungen sind ungewollt Schwangere enormen Belastungen ausgesetzt. Das liegt auch an der restriktiven Gesetzgebung. Wer eine Schwangerschaft beendet, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft, heißt es im Strafgesetzbuch. Zwar gibt es Ausnahmen, etwa wenn der Abbruch in den ersten zwölf Wochen erfolgt. Rechtswidrig bleibt er. Das stellt auch die behandelnden Ärzte vor große Schwierigkeiten. Dazu kommt die Angst vor radikalen Abtreibungsgegnern, die vor Praxen lauern.

Beratungsstellen fürchten, dass Schwangere den Abbruch nach hinten verschieben

Immer weniger Mediziner und Medizinerinnen beenden in Deutschland Schwangerschaften. Genaue Daten gibt es nicht. Beim Statistischen Bundesamt erfährt man nur, dass die Zahl der Kliniken und Arztpraxen, in denen grundsätzlich Abbrüche vorgenommen werden, abnimmt. 2019 waren es zuletzt 1149 Einrichtungen, im Jahr 2003 waren es noch 900 mehr. Und von den Ärzten und Ärztinnen, die Schwangerschaften beenden, haben einige das Rentenalter bereits überschritten. Auch dazu gibt es deutschlandweit keine Zahlen. In Bayern veröffentlichte die Staatsregierung 2019 nach einer kleinen Anfrage der Grünen im Landtag einige Daten. Demnach liegt das Durchschnittsalter bei 58 Jahren. Wahrscheinlich ist es jedoch noch höher.

Die Altersangaben stammen von der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns, allerdings werden hier nur Vertragsärzte erfasst, also solche mit kassenärztlicher Zulassung. Es gibt aber noch mehr Mediziner, die in Bayern die Erlaubnis haben, Schwangerschaftsabbrüche vorzunehmen. Sie sind nur keine Vertragsärzte. Einige von ihnen sind schon im Rentenalter und haben daher aus Altersgründen die Zulassung abgegeben, heißt es bei Pro Familia Bayern. Das legt auch ein Blick auf den Bezirk Oberbayern nahe: Hier zählen von 66 Ärzten, die die Erlaubnis haben, immerhin 46 mit 60 Jahren und mehr in Corona-Zeiten zur Risikogruppe. Aus einer prekären Versorgung wird so wie in Passau zumindest temporär eine Nichtversorgung.

"Ungewollt Schwangere sind in einer psychischen Ausnahmesituation. Die große Entfernung belastet sie zusätzlich. Und dann kommt noch Corona dazu", sagt Thoralf Fricke, Landesgeschäftsführer bei Pro Familia Bayern. Vielen Frauen stehe kein Auto zu Verfügung, sie müssten dann Zug fahren oder Bekannte um Hilfe bitten. Derzeit alles andere als einfach. Hinzu kommen die Ausgangsbeschränkung und der finanzielle und zeitliche Aufwand: Weil Kitas und Schulen geschlossen sind, müssen sich viele um ihre Kinder kümmern.

Er fürchtet, dass Schwangere deshalb den Abbruch verschieben könnten. "Unter normalen Bedingungen finden die etwa 100.000 jährlichen Abbrüche im Durchschnitt in der sechsten bis achten Woche statt. Das könnte sich jetzt nach hinten verschieben", sagt Fricke. Doch je später eine Schwangerschaft beendet wird, desto größer ist das Risiko. Für die Gesundheit und wohl auch für die Psyche. "Ich will keine Panik verbreiten", sagt Fricke. Aber Sorgen macht er sich doch.

Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel? "Ist quasi nicht zu bekommen."

Noch drastischer formuliert es Kristina Hänel: "Wir müssen jetzt Frauenleben retten. Wir müssen einen sicheren Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen gewährleisten. Ich befürchte, dass Betroffene sonst in einer ausweglosen Situation nicht mehr weiterwissen und sich selbst etwas antun könnten", sagt sie am Telefon. Hänel hat eine Praxis im hessischen Gießen. Im November 2017 wurde sie zu 6000 Euro Geldstrafe verurteilt, weil sie das Wort "Schwangerschaftsabbruch" auf ihre Website geschrieben hatte. Selbsternannte Lebensschützer sahen darin einen Verstoß gegen das Werbeverbot und verklagten sie, das Amtsgericht Gießen gab ihnen recht. Doch Hänel wehrte sich und löste damit eine kontroverse Debatte über Paragraf 219a aus, der es Ärzten und Ärztinnen verbietet, darüber zu informieren, dass sie Schwangerschaften beenden. In Gießen hilft die Medizinerin derweil weiter Frauen. Hier ist die Versorgungslage trotz Pandemie besser als in Passau. Allerdings vor allem, weil Hänel, auch schon 63 Jahre alt, mehr Termine macht.

Kristina Hänel

Die Gießener Ärztin Kristina Hänel, 63, die weiterhin Schwangerschaftsabbrüche vornimmt - ohne Schutzkleidung zu haben.

(Foto: Boris Roessler/dpa)

Um das Infektionsrisiko zu minimieren, arbeiten ihre Mitarbeiter im Schichtbetrieb. Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel? "Ist quasi nicht zu bekommen." Zu den betroffenen Frauen aus Gießen kommen jetzt auch noch die Patientinnen, die von Kollegen aus anderen Städten zu Hänel geschickt werden. Weil die Gynäkologen wie Michael Spandau zur Risikogruppe gehören. "Die Mehrarbeit ist nur zu schaffen, weil ich jedes Wochenende durcharbeite", erzählt Hänel. Die Ärztin macht das aus Überzeugung, zu groß ist die Sorge, dass unter der Pandemie vor allem diejenigen ungewollt Schwangeren leiden, die arm sind, wenig Kontakte haben, keine Informationen.

Wer eine Schwangerschaft beenden will in Deutschland, muss sich beeilen. Nur in den ersten zwölf Wochen ist ein Abbruch straffrei. Der Weg dorthin ist langwierig. Zur schwierigen Arztsuche kommen die vielen Unterlagen, die es braucht. Von der Krankenkasse, wo man vielerorts für eine Kostenübernahme persönlich vorsprechen muss. Von der Pflichtberatung, weil erwachsene Frauen in Deutschland nicht alleine die Entscheidung über eine Schwangerschaft treffen können. Das ist auch ohne Pandemie kompliziert. Nun gibt es überall Personalengpässe, nicht nur Arztpraxen, auch Beratungsstellen mussten mancherorts ihr Angebot einschränken oder sind sogar geschlossen.

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Immerhin haben viele Bundesländer inzwischen Ausnahmeregelungen erlassen, um die Beratungen per Video oder Telefon durchzuführen. Krankenkassen zögern dagegen, Formulare digital zur Verfügung zu stellen. Hänels Arzthelferinnen haben deshalb tagelang für die Patientinnen selbst die Kassen abtelefoniert. "Die gesetzliche Frist von zwölf Wochen einzuhalten, wäre sonst für viele Frauen unmöglich gewesen", sagt die Ärztin.

"Home Use" ist in Deutschland verboten

"Besonders hart trifft es Frauen, die in schwierigen Beziehungen leben", glaubt Christiane von Rauch. Die Medizinerin spricht für Doctors for Choice, ein deutschlandweites Netzwerk von Ärztinnen und Ärzten, die sich für einen selbstbestimmten Umgang mit Sexualität und Familienplanung einsetzen. Erfahrungen aus China zeigten, dass die Fälle von häuslicher Gewalt während einer Ausgangssperre zunehmen, erzählt sie am Telefon. "Frauen sind nun daheim dem Risiko sexueller Übergriffe noch mehr ausgesetzt. Wenn sie dann keine Chance auf einen Schwangerschaftsabbruch haben, wird es natürlich umso schwieriger, sich von dem Partner zu trennen", warnt Rauch. Die eingeschränkte Privatsphäre bedeute auch für Frauen aus konservativen und religiösen Milieus große Probleme. "Ich fürchte, dass sie nun versuchen könnten, zu gefährlichen Methoden zu greifen, um eine Abtreibung herbeizuführen."

Medizinerin Rauch fordert, dass Kliniken auch weiterhin Schwangerschaftsabbrüche als "notwendige Behandlungen" durchführen. Sie wünscht sich außerdem, dass mehr Ärzte in Deutschland medikamentöse Abbrüche machen. Anders als etwa in Skandinavien werden drei Viertel nach wie vor operativ durchgeführt. Zusätzlich zu einem Gynäkologen braucht es dazu eine Anästhesistin. Allerdings muss auch bei einem medikamentösen Abbruch ein Frauenarzt zu zwei Terminen persönlich anwesend sein. Der sogenannte "Home Use", die Möglichkeit also, die beiden Pillen per Rezept selbst in der Apotheke abzuholen und mit telemedizinischer Begleitung einzunehmen, ist in Deutschland verboten.

Großbritannien hat inzwischen den "Home Use" der Abtreibungsmedikamente Mifepriston und Misoprostol bis Ende der neunten Woche zugelassen. Auch das französische Gesundheitsministerium hat neue Richtlinien erlassen, damit die Beratung nicht persönlich stattfinden muss. Und wenn Frauen es wünschen und es medizinisch vertretbar ist, dürfen auch sie beide Pillen zu Hause einnehmen. In Deutschland glaubt dagegen kaum jemand, dass die Pandemie auch etwas zum Positiven verändern könnte. Und so sind ungewollt schwangere Frauen weiter auf den persönlichen Kontakt zu den immer weniger werdenden Ärzten und Ärztinnen angewiesen.

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