Einsatz im Mittelmeer:Niemand soll zurückbleiben

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Benedikt Funke aus Bad Tölz engagiert sich in der ehrenamtlichen Seenotrettung. Er war Kapitän auf der "Iuventa", die von Italien festgesetzt wurde. Die europäische Flüchtlingspolitik ist für ihn skandalös

Von Felicitas Amler

Vier weiße Hände strecken sich nach unten, eine schwarze Hand greift fest zu. Ein kleiner Ruck nach oben - gerettet! Wieder und wieder dieselbe Szene. Frauen und Männer in dicken orangefarbenen Schwimmwesten werden an Bord gezogen, straucheln, stolpern, fallen, werden aufgefangen, umarmt, getröstet. Erschöpfung, Resignation, Verzweiflung entladen sich. Hin und wieder ist ein Lächeln zu sehen. Eine Schwarzafrikanerin haucht ein "Dankeschön". Dann brechen die beiden deutschen Männer ab, das Rettungsboot ist voll, es muss erst zum Schiff und dann wieder zurück. Verzagte Gesichter bei den noch nicht vom unsicheren Kahn Herübergeholten. Die Retter versichern auf Deutsch und auf Englisch: "Wir werden alle holen. Keiner bleibt zurück."

Das war der Plan. Kein Flüchtling sollte mehr auf dem Mittelmeer zwischen Libyen und Italien ertrinken. Um einen eigenen Beitrag dazu zu leisten, haben sich vor fünf Jahren junge Leute zusammengeschlossen. "Jugend rettet" heißt ihre Initiative. Sie gründeten einen Verein, sammelten Spenden, fanden Geldgeber, schafften ein Schiff an, bauten es um und rüsteten es aus - die Iuventa . Der Start ihrer Rettungsmission, die wie in der geschilderten Szene auch filmisch dokumentiert ist, war 2016. In jenem Jahr war Benedikt Funke einer der Kapitäne. Der 35-Jährige lebt heute mit Frau und kleiner Tochter in Bad Tölz. Und engagiert sich immer noch ehrenamtlich für die Seenotrettung - allerdings nicht mehr auf einem Schiff, sondern in der Öffentlichkeitsarbeit, mit aufrüttelnden Vorträgen wie zuletzt vor der Kommunalwahl in der Geltinger Kulturbühne "Hinterhalt". Die Iuventa aber fährt nicht mehr. Sie liegt vor Sizilien, festgesetzt von den italienischen Behörden.

Nautisch technischer Berater

Benedikt Funke hatte schon früh eine Liebe zum Wasser. Er ist in München aufgewachsen, da gehörte das Segeln auf dem Starnberger und dem Ammersee zur Freizeit. Nach dem Abi studierte er in Bremen Nautik, fand nach seinem Abschluss, der in die Zeit der Lehman-Pleite und ihrer weltweiten Folgen fiel, keinen Job zur See und wandte sich dem Schiffsversicherungswesen zu, war bei der Münchner Rück beschäftigt, wo er als nautisch-technischer Berater auch den Schaden der spektakulär havarierten Costa Concordia mit bearbeitete. Schließlich fuhr er wieder zur See, als Offizier auf Kreuzfahrtschiffen. Nicht die große Luxusklasse, wie er sagt, "aber auf jeden Fall Überfluss". Er selbst würde nie so einen Urlaub machen. Die Besatzung aber habe ein kollegiales Berufsleben und komme "ganz schön rum". Er sei weltweit unterwegs gewesen, von der Antarktis bis zur Arktis. Doch gleichzeitig spielten sich die Flüchtlingsdramen im Mittelmeer ab. "Verfolgt habe ich das Thema schon länger", sagt Funke, "man lebt als Seemann mehr in einer maritim geprägten Nachrichtenwelt."

So entscheidet er sich 2015 - es ist das Jahr, das in Deutschland mit den Begriffen "Flüchtlingskrise" und "Wir schaffen das" verbunden wird - für ein ehrenamtliches Engagement. Die Initiative "Jugend rettet" lernt er über ein Porträt des Gründers Jakob Schoen in der SZ kennen: "Das hat mich so mitgerissen."

Der studierte Nautiker war einer der Ältesten in der zunehmend wachsenden Gruppe, die Initiatoren sind anfangs alle um die zwanzig, Funke damals dreißig. Vor allem aber ist er vom Fach. Schon an der Anschaffung des Schiffs war er beteiligt. Und im Sommer 2016 war er als Kapitän an Bord. Man kann ihn im Film, der über die Iuventa gedreht wurde, sehen.

"Alles ehrenamtlich", betont Funke, "wir haben teilweise auch unsere Flüge selbst bezahlt." Er habe in dieser Zeit überwiegend von seinen Ersparnissen gelebt, zwischendurch in der Schenke des Festzelts Tradition auf dem Oktoberfest gearbeitet. Dann ein neues freiwilliges Engagement, auf der Aquarius für "Ärzte ohne Grenzen", anschließend als Erster Offizier auf einem Hospitalschiff im Pazifik - auch ehrenamtlich.

Er habe schon "eine starke Tendenz zu humanitärer Hilfe", so drückt Funke es aus. Jedenfalls habe er dann noch ein Studium draufgelegt, einen einjährigen Mastergang am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität in Hamburg. Seine Masterarbeit hat er über Migration und Seenotretung geschrieben. Seine politische Haltung hat sich in den Jahren der Seenotrettung und des Studiums entfaltet. "Als ich anfing, habe ich immer noch versucht, sehr diplomatisch zu formulieren. Jetzt denke ich, die Politik will das so, dass hier Menschen sterben."

Die Politik, die europäische Politik sieht Funke in der Pflicht. Die private Seenotrettung habe ja nur begonnen, weil die Staaten versagten. "Wir kamen, als das Problem da war." Ziel der ehrenamtlichen Retter sei es doch gewesen, dies deutlich zu machen: "Die EU muss ihrer humanitären Verpflichtung der staatlichen Seenotrettung nachkommen." Das ist seine Forderung und die all jener, die er unterstützt, Jugend rettet, Sea Watch, Sea Eye, Seebrücke. "Der Druck muss von unten kommen", sagt Funke. Der Seenotretter spricht nicht allzu intensiv über Leid und Elend, das er selbst gesehen hat. Im Iuventa-Film gibt es eine Szene, in der er per Funk durchgibt, wie eine Aktion ablief: "Nobody drowned", niemand ist ertrunken, aber: "I have two dead bodies." Zwei Menschen lagen bereits tot im geretteten Boot.

"Zutiefst rassistisch"

Auf Nachfrage, ob er im Mittelmeer oft Schlimmes erlebt habe, sagt Funke, er wolle so etwas nicht zu Schau stellen, es sei auch keineswegs immer so, dass um die Retter herum Menschen ertränken. Aber ja, es komme häufig vor, dass sie Tote vorfänden, Flüchtlinge, die in den Booten erdrückt worden seien.

Wenn er sich politisch äußert, wird er plastischer und drastischer. Im "Hinterhalt" nannte Funke es einen Skandal, dass die libysche Küstenwache von der Europäischen Union unterstützt werde; manches, was vor der libyschen Küste geschehe, sei in seinen Augen Mord. Dass Flüchtlinge nicht grundsätzlich gerettet werden, sei "zutiefst rassistisch", schließlich sei Seenotrettung Pflicht. "Niemand würde diskutieren, ob ein deutscher Segler vor der norwegischen Küste gerettet werden muss." Gleichzeitig, so Funke, würden die privaten, ehrenamtlichen Retter kriminalisiert. So auch der Verein Jugend rettet mit seinem Schiff.

Die Iuventa wurde, nachdem sie 14 000 Menschen gerettet hatte, von den italienischen Behörden beschlagnahmt und in Lampedusa festgesetzt. Nach einem "haarsträubenden Aufwand", wie ihr ehemaliger Kapitän sagt: "Das Schiff wurde verwanzt, Telefone wurden abgehört." Der Vorwurf der Kooperation mit Schlepperbanden kursierte. Und dennoch gebe es bis heute kein Verfahren, keine Anklageerhebung, nur ein immer noch schwebendes Ermittlungsverfahren. Im Herbst 2017 hatte Funke noch einmal an Bord der Iuventa gehen wollen - da war sie schon arrestiert.

Der Nautiker hat inzwischen einen neuen Job, in dem er berufliche Fähigkeiten und persönliche Überzeugungen verbinden kann. Er arbeitet an der Neugestaltung des Deutschen Museums in München mit - natürlich in der Abteilung Schifffahrt. Durch einen Zufall sei er darauf aufmerksam geworden, erzählt er, und er habe gewusst: "So eine Chance kommt in meinem Leben nur einmal." Denn er könne dort die Themen Migration und Seenotrettung einbringen. Er versuche, eines der Original-Einsatzboote in die Ausstellung zu bekommen. "Das wäre natürlich ein totales Highlight." Immerhin erreiche das Deutsche Museum mit seinem Bildungskonzept Millionen Menschen. "Da kann ich ganz schön was bewegen."

"Ich halte das nicht aus"

Dieser Blick nach vorn ist ihm wichtig. Umso mehr, als gerade jetzt, durch die Corona-Krise, das Thema Flüchtlinge weitgehend ausgeblendet ist aus dem öffentlichen Bewusstsein. Unmittelbar vor Corona sei die Situation in Lesbos derartig aus dem Ruder gelaufen, dass Flüchtlinge ins Meer zurückgezogen, humanitäre Helfer attackiert wurden. Alles sei so heftig gewesen, dass er geglaubt habe: "Ich halte das nicht aus." Er habe sogar überlegt, sich gar keine Nachrichten mehr anzuhören. Dass Deutschland angesichts dieser Katastrophe 50 Flüchtlingskinder aufnimmt, nennt Funke einen Witz.

Seine Vorstellungen sind andere. Wegen der Corona-Krise müssten die Flüchtlingslager evakuiert und - wie auch vom Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) gefordert - untätige Passagierschiffe und Hotels vor Ort genutzt werden. Die europäische Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache müsse eingestellt werden. Und Europa müsse endlich staatliche Seenotrettung leisten.

Und wenn all dies weiterhin nicht geschieht? Wohin mit der eigenen Verzweiflung und Empörung? "Auf die Straße tragen", sagt Funke. "Ich kanalisiere das durch meine politische Arbeit, das ist ein wichtiges Ventil." Lokal, also in seiner neuen Heimat Bad Tölz, hat er dieses Engagement zwar noch nicht verankert. Aber er rät allen, die sich hier für die Rettung von Flüchtlingen einsetzen wollen, sich der "Seebrücke" anzuschließen, die perfekte Instrumente dazu biete. "Es würde mich freuen, wenn sich hier eine lokale Initiative gründen würde." Das Motto der Seebrücke sind übrigens jene Worte, welche die beiden Retter im Iuventa-Film den Flüchtlingen zusprechen: "Leave no one behind" - keiner soll zurückbleiben.

www.seebruecke.org

© SZ vom 18.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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