Chicago-Bulls-Serie "The Last Dance":Als der Tyrann an die Zimmertür klopfte

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Michael Jordan und Scottie Pippen: Prägende Figuren einer Mannschaft (Foto: Sue Ogrocki/Reuters)

Michael Jordan war ein Popstar des Sports, er dominierte mit den Chicago Bulls den Basketball. Die Dokumentarserie "The Last Dance" zeichnet das Porträt einer Mannschaft, die wild war, aber nicht verrückt.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Und plötzlich bemerken alle, die damals dabei gewesen waren, wie durchgeknallt, unwirklich und einzigartig das alles gewesen ist. Michael Jordan erzählt diese Anekdote, die bislang als Gerücht, Mythos oder Übertreibung kursierte. Und es ist einem genialen Kniff des Regisseurs Jason Hehir zu verdanken, dass es nun diesen Moment der Erkenntnis gibt. Er interviewt Jordan für die Dokumentarserie "The Last Dance" über die Chicago Bulls der Neunzigerjahre, und später zeigt er den anderen, was Jordan gesagt hat: Trainer Phil Jackson kichert, Scottie Pippen hat Tränen in den Augen, Dennis Rodman ist außer sich vor Verzückung.

Das, was Jordan da erzählt, ist die Essenz dieser Ansammlung an Individualisten. Verbunden einzig durch die Lust, nein, durch ihre Sucht nach Erfolg. Nur deshalb raufen sie sich auf wundersame Weise zusammen, treiben sich über Grenzen hinaus, die sie ohne einander nie überwunden hätten. "Es kann schon sein, dass Leute nach Ansicht dieser Doku über mich sagen: 'Wow, ein netter Kerl war der aber nicht - eher ein Tyrann'", vermutet Jordan. Aber: "Das ist die Meinung derer, die selbst nie irgendwas gewonnen haben."

Die Bulls wollten im Jahr 1998 den sechsten Titel binnen acht Jahren gewinnen, und diese Anekdote also, die geht so: Rodman beantragt bei Trainer Jackson ein paar Tage Urlaub; mitten in der Saison wohlgemerkt, und nicht irgendwo, sondern in Las Vegas. So eine Bitte ist natürlich unerhört, zumal die Bulls zu diesem Zeitpunkt nicht besonders gut spielen, Jackson stimmt nach Rücksprache mit Jordan dennoch zu. Rodman feiert in der sündigen Stadt derart heftig, dass selbst Caligula vor Scham errötet wäre, und natürlich ist er nach den vereinbarten 48 Stunden noch nicht zurück.

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"Ich musste seinen Arsch da rausholen", sagt Jordan, der tatsächlich höchstselbst von Chicago nach Las Vegas flog: "Ich habe an seine Zimmertür geklopft - ich werde nicht verraten, wen oder was ich da vorgefunden habe." Das muss er nicht, die Schauspielerin Carmen Electra berichtet, dass sie sich hinter der Couch vor Jordan versteckte. Ein paar Stunden später schlurft Rodman verkatert in Schlafanzughosen und Badelatschen zum Training der Bulls, und der einzige Kommentar von Jackson: "Das dürfte heute ein bisschen anstrengend werden für dich." Das war's, kein Skandal, keine Strafe, nichts. So war das damals, ohne soziale Netzwerke.

Die Geschichte erzählen die Personen, die dabei gewesen sind

Die Bulls bewegten sich an der Schnittstelle von Profisport, Popkultur und Kapitalismus, sie waren ein Wanderzirkus der Unterhaltungsbranche und ebneten den Weg für fast alles, was heute so faszinierend wie fragwürdig ist: die Überhöhung sportlicher Leistung bis hin zu gesellschaftlicher Relevanz. Der götzenähnliche Kult, der sich in den Statuen vor den Stadien manifestiert. Die obszöne Bezahlung. Die Gewissheit, dass sich einer abseits des Spielorts so ziemlich alles erlauben kann, solange er auf dem Parkett liefert. Das Geschäft, in dem die Akteure keine Freunde sein müssen, um erfolgreich zu sein.

Bereits zum Saisonstart 1997/98 stand fest, dass die Ära danach enden würde. Manager Jerry Krause wollte den Vertrag mit Trainer Jackson keinesfalls verlängern und das Gehalt von Pippen keinesfalls erhöhen. Jordan wollte ohne Jackson nicht bei den Bulls bleiben; Rodman war, wie die Las-Vegas-Anekdote zeigt, schon trotz Jordan und Pippen im Kader kaum zu bändigen. Alle wussten, dass dies der letzte Tango sein würde. Der Ordner, den Jackson seinen Spielern zu Saisonbeginn überreichte, trug den Titel: The Last Dance.

Die Bulls erlaubten einem Filmteam von NBA Entertainment, sie in dieser Spielzeit zu begleiten. Die Aufnahmen wurden bisher nicht veröffentlicht, aber obwohl der US-Sender ESPN (der die zehnteilige Doku ab Sonntag zeigt) und das Streamingportal Netflix (wo "The Last Dance" ab Montag in Deutschland zu sehen ist) nun heftig damit werben: Diese Bilder selbst erzählen keine Geschichte. Es gibt keine intimen Einblicke ins Innerste dieses Gebildes, keine Videos von hitzigen Debatten; ein umgetretener Mülleimer oder eine zugeknallte Tür sind die aufregendsten Szenen.

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Die Geschichte erzählen die Personen, die dabei gewesen sind (oder es irgendwie erlebt haben), und es ist das Verdienst von Regisseur Hehir, dass er derart viele Leute dazu gebracht hat, jeweils ein Puzzlestück zum Gesamtbild zu liefern. Bill Clinton, der damalige US-Präsident, kommt ebenso zu Wort wie Barack Obama, der in Chicago aufgewachsen ist. So fügen sich all diese Erzählungen in Kombination mit den Bildern von damals zu einem stimmigen Bild davon, wie dieses Team zusammengestellt wurde, wie es zueinanderfand, warum es auseinanderbrechen musste.

Hehir erstellt ein Netzwerk aus Beziehungen, jede einzelne spannend genug für eine eigene Folge. Warum der aus armen Verhältnissen stammende Pippen zu Beginn seiner Karriere einen langfristigen Vertrag will und sich nach seinem Aufstieg zum Superstar stets erniedrigt fühlt. Wie er deshalb seinen designierten Nachfolger Toni Kukoc bei Olympia 1992 demütigen will, und wie Kukoc nach dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien bei den Bulls dann doch zum Partner von Pippen wird. Wie der einstige Hippie Jackson zunächst als Assistent das Offensivsystem Triangle verfeinert und als Cheftrainer seine Leute mit Praktiken aus dem Zen-Buddhismus führt. Wie aus dem Drei-Punkte-Schützen Steve Kerr sehr viel später und bis heute der genial anmutende Trainer der Golden State Warriors wird.

Und, und, und. Der Knoten in der Mitte des Netzes ist Jordan. Er ist der strahlende Held einer Sportart, die durch die Teilnahme des Dream Teams bei Olympia 1992 in Barcelona weltweit an Bedeutung gewinnt. Seine Künste als Basketballspieler (Rivale Larry Bird sagt einmal: "Das ist Gott, verkleidet als Michael Jordan") sind der Katalysator für eine Popularität, die in dieser Wucht nicht einmal Muhammad Ali genossen hat. Er ist der erste Sportler mit eigenem Schuhwerk (Air Jordan), was zur Sneaker-Subkultur führt. Er ist Filmstar ("Space Jam"), spielt im Musikvideo zum Lied "Jam" von Michael Jackson mit und ist omnipräsent in Werbefilmen für die großen Firmen. Die Reklame für einen Getränkehersteller zeigt, wie damals alle sein wollen: "Be like Mike" - sei wie Mike.

Es gab weltweit nicht viele, bei denen der Vorname genügte, um sie zu identifizieren: Denzel, Serena, Barack - bei Jordan ist das umso beeindruckender, weil der Vorname nun wirklich nicht außergewöhnlich ist. Seine Popularität allerdings hatte zur Folge, dass er oft daherkam wie mit Teflon überzogen: Alles prallte an ihm ab, niemand konnte ihn greifen. All dies gipfelte darin, dass er gesagt haben soll, dass er sich nicht in politische oder gesellschaftliche Dinge einmischen wolle, weil "Republikaner auch Sneakers kaufen" würden.

Ob Jordan das wirklich gesagt hat, wird ebenfalls verraten in dieser grandiosen Dokuserie, die wegen der Coronavirus-Pandemie ein paar Wochen früher als geplant gezeigt wird. Die Auflösung gibt es in Folge vier und soll daher nicht verraten werden.

Jordan ist der überragende Einzelkönner, der Titel in Nordamerikas Profiliga NBA aber bleibt ihm zunächst verwehrt. Die Bulls scheitern regelmäßig an den Detroit Pistons, Jordan wird dabei nicht gefoult, sondern kaltgestellt, eine nicht unerhebliche Rolle spielt dabei: Dennis Rodman. Der wird wegen seiner Spielweise - als Folge eines absichtlichen Fouls an Pippen trägt er eine Narbe am Kinn - zur meistgehassten Figur in Chicago. Zum Erwachsenwerden von Jordan gehört jedoch, und darum geht es letztlich in dieser Serie, dass er nicht nur die Pistons besiegt und Anfang der Neunzigerjahre drei Mal Meister wird, sondern dass er 1996 Rodmans Umzug zu den Bulls zustimmt.

"Jeder durfte sein, wie er ist"

Jordan mag ein Tyrann gewesen sein, der Mitspieler beschimpfte und beleidigte. Er tat das aber nicht, und das unterscheidet ihn von anderen, um den eigenen Status zu untermauern. Er wusste, dass er nur erfolgreich sein wird, wenn auch die Kollegen Höchstleistungen liefern. Er war knallhart sich selbst gegenüber, er ordnete alles dem Erfolg unter, auch persönliche Statistiken - und er nahm diesen tätowierten und gepiercten Freak mit den gefärbten Haaren nicht nur auf, sondern gab ihm, was der brauchte: Respekt.

Ein funktionierendes Team besteht nicht aus Freunden, sondern aus Leuten, die einander respektieren, und deshalb erzählt Jordan noch eine Anekdote: Nach einer Niederlage, die Rodman mit einem flüchtigen Wurf ins Aus verschuldet hatte, kam der später zu Jordan ins Hotelzimmer. "Er hat sich nicht entschuldigt", sagt Jordan: "Er wollte eine Zigarre mit mir rauchen. Das haben wir getan, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Das war's, von diesem Moment an war er scharf wie ein Messer." Als Rodman diese Szene in der Doku zu sehen bekommt, hat er Tränen in den Augen.

"Es gibt nun mal Leute, die brauchen eine längere Leine", sagte Steve Kerr vor wenigen Tagen am Telefon. Und ein bisschen war es bei diesem Termin wohl wie vor mehr als 20 Jahren: Pippen, so die PR-Frau von ESPN, lasse sich entschuldigen, er habe einen anderen Termin. Rodman sei ein wenig verspätet, komme aber noch - nur Kerr sei pünktlich und würde nun die Fragen der Handvoll Journalisten beantworten. Rodman wird auch eine Stunde später nicht da sein, also redet Kerr darüber, wie er diesen Zirkus damals als Einwechselspieler erlebt hat.

"Es war eine Gruppe aus Leuten, wie es sie davor oder danach nicht mehr gegeben hat", sagt er: "Jeder durfte sein, wie er ist. Jeder hat den anderen sein lassen, wie er gewesen ist - und Trainer Phil Jackson hat über all die Jahre dafür gesorgt, dass jeder Individualist bleiben durfte und gleichzeitig gewusst hat, dass Erfolg nur als Gruppe möglich sein würde."

Als er das sagt, wird dem Zuhörer klar, warum die Golden State Warriors in den vergangenen Jahren so erfolgreich waren. Und wie es Steve Kerr, 54, glückte, Einzelkönner wie Stephen Curry, Klay Thompson, Draymond Green und später Kevin Durant zu einer Einheit zu formen. Den Warriors gelang es 2016 sogar, den Bulls-Rekord der Spielzeit 1996/97 für die beste Bilanz der Hauptrunde (73:9 Siege) zu brechen. Insgesamt hat die Kerr-Truppe jetzt in fünf Finalspielen in Serie drei Titel gewonnen. Aber was soll so einen Trainer, der unter dem Stoiker Phil Jackson gelernt hat, schon nervös machen? Einer, der selbst einer der sichersten Distanzschützen der Historie ist, der sich unter einem Tyrannen behauptet und Dennis Rodman respektvoll ertragen hat. Und der sich schon als Spieler vom Wahnsinn der Bulls nicht aus der Ruhe bringen ließ.

© SZ vom 18.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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