Oberschleißheim:Geschichten über Mut und Verblendung

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Ein zerstörtes Schloss, Dramatisches am Fliegerhorst: Ortschronist Otto Bürger hat das Kriegsende dokumentiert

Von Gudrun Passarge, Oberschleißheim

Der Schleißheimer Ortschronist Otto Bürger nennt es Ironie des Schicksals. Am 29. April 1945, einen Tag vor Hitlers Selbstmord in Berlin, übergibt Oberleutnant Peter Spoden den Schleißheimer Fliegerhorst kampflos, er ignoriert den Befehl, alles zu zerstören. Im kleinen Ortsteil Neuherberg dagegen stemmen sich am selben Tag 21 junge SS-Leute im Alter von 17 bis 25 Jahren gegen die US-amerikanische Übermacht. Dabei gibt es dort gar nichts zu verteidigen. Sie fallen im Namen eines längst nicht mehr existierenden Vaterlands, verblendet von einer menschenverachtenden Ideologie. Kriegsende in Schleißheim, das bedeutete auch ein Ende der Bombenangriffe. Mehr als 200 Mal mussten die Menschen wegen Fliegeralarms ihre Häuser verlassen, viele Schleißheimer starben, viele Häuser und auch das Alte Schloss wurden zerstört.

Der Krieg endete vor 75 Jahren. Ein Grund für den Ortschronisten Bürger, an die Zeit zu erinnern. Eigentlich hätte er das in einem Vortrag machen wollen, aber die Corona-Pandemie machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Die Vorlage für den Vortrag war längst erstellt. Der Kenner der örtlichen Historie hat das Geschehen der Nazizeit aufgearbeitet und auch das Kriegsende in einem eigenen Kapitel in seiner Dokumentation "Schleißheim und der Münchner Norden zur Zeit des Nationalsozialismus" neu überarbeitet und festgehalten. Aus heutiger Sicht liest sich manches befremdlich. Wie das Schicksal des Unterschleißheimer Pfarrers Max Moser. Er hörte am Geschützlärm, dass die Amerikaner kurz vor Unterschleißheim standen, weshalb er eine weiße Fahne auf dem Kirchturm von St. Ulrich hisste. Die SS wollte ihn deswegen erschießen. Doch ein vorbeikommender Fliegeroffizier bekam das mit und bat darum, die Exekution persönlich vornehmen zu dürfen, weil er den Pfarrer so sehr hasse. Die SS übergab ihm Moser, und er marschierte mit ihm ab. Außer Sichtweite schoss er mehrmals in die Luft und eröffnete dem Pfarrer die Chance zur Flucht. Der überlebte das Kriegsende.

Schleißheim war in den Vierzigerjahren eine kleine Gemeinde mit zwei großen Schlössern. "Aber viel mehr noch hat der Fliegerhorst die Gemeinde verändert", sagt Bürger. Allein zwischen 1939 und 1943 wuchs die Einwohnerzahl von 3214 auf 3963. Die am Flughafen stationierten Soldaten und das Bodenpersonal brauchten Wohnungen, dafür wurden Siedlungen gebaut. Außerdem entstanden am Gelände des Flughafens Baracken für russische Kriegsgefangene. Bürger nutzte für seine Recherche viele Unterlagen des damaligen Pfarrers Josef Kranz. Der Pfarrer, den Bürger als Messdiener noch persönlich erlebt hat, stellte ihm sein Archiv zur Verfügung. Inklusive einer 37 Zentimeter großen zylinderförmigen Metallhülse einer Kartusche. Sie stammt von amerikanischen Geschützen, die Soldaten am Kirchplatz aufgebaut hatten, um von dort aus München zu beschießen, wie Bürger berichtet.

Kranz war nicht nur Oberschleißheimer Geistlicher, sondern auch Standortpfarrer am Fliegerhorst. Bürger hat Fotos, auf denen Kranz bei feierlichen Beerdigungszeremonien am Flugplatz in den Junkershallen zu sehen ist. Dabei war Kranz gewiss kein linientreuer NS-Gefolgsmann. Er war sogar mal kurze Zeit im Gefängnis in Stadelheim. Bürger sagt, der Pfarrer habe zu den Königstreuen gehört. Auch nach seinem Gefängnisaufenthalt lieferte sich Kranz immer wieder Gefechte mit der SS und las beispielsweise verbotenerweise Hirtenbriefe in der Kirche vor. Über die Kriegszeit hat er viel aufgeschrieben. So beginnt er etwa seine Rückschau auf das Jahr 1944 mit einem Wort des heiligen Augustinus, der gesagt hat, die Geschichte der Menschen verlaufe zwischen den Tröstungen Gottes und den Verfolgungen der Welt.

Kranz berichtet von Fliegeralarmen und Bombenterror. "Der furchtbarste Tag, den die Gemeinde je erlebt hat, war der 19. Juli. Etwa 175 Bomben wurden um die Mittagsstunde auf die Ortschaft und den Fliegerhorst geworfen. 29 Tote und acht Schwerverletzte hatte man zu verzeichnen." Die Kirche Maria Patrona Bavariae wurde bereits zum zweiten Mal schwer beschädigt. Bürger hat Fotos von diesen Tagen und von früheren Angriffen. Er berichtet, dass das Simekhaus des Baumeisters Josef Simek gegenüber vom Pfarrhaus am 21. Dezember 1942 völlig zerstört wurde. In dem Haus war auch der Sohn der Familie zu Gast. Er hatte wegen Weihnachten Fronturlaub bekommen und starb in den Trümmern seines Elternhauses.

Was der Pfarrer mit den Tröstungen meinte, ist die große Zahl derer, die zum Gottesdienst kamen. Darunter auch Ungarn, Litauer und Italiener und Österreicher, wie er schreibt. "Die Not und Bedrängnis führt die Menschen auch wieder zu Gott", so Kranz. In den letzten Kriegstagen nahmen die Angriffe noch einmal zu. Für den 18. April 1945 notierte der Geistliche: "Plötzlich heulten die Sirenen, Feindflieger rauschten über Schleißheim. Es krachte und zischte unheimlich - die Luft war erfüllt mit Phosphor und Schwefel." Auch ein Bericht des evangelischen Vikariats in Moosach beschreibt die Zeit. Bei den Angriffen um den 20. April herum wurde das Alte Schloss schwer beschädigt. Dort hatten die evangelischen Christen ihren Betsaal, der ebenfalls zerstört wurde. "Die Schleißheimer Bevölkerung hat den Ort größtenteils fluchtartig verlassen und sich in der Umgebung zerstreut. Die Obdachlosen schlafen in Stadeln, Ställen und im Luftschutzkeller des Neuen Schlosses", heißt es in der Chronik vom 26. April 1945.

Aber auch die Flieger vom Schleißheimer Fliegerhorst waren noch aktiv. Im Kriegstagebuch des Nachtjagdgeschwaders steht zum Beispiel für den 17. 4. 1945 zu lesen: "20:36 - 22:58 Uhr: 3 JU 88 im Nürnberger Raum, 4 Kfz in Brand geschossen, Verlust: 1 JU mit OLt. Jerz, Uffz. Pauly, Fw Prokop und Uffz. Staufer vermisst." Für den 20. April ist dort ein nächtlicher Angriff von etwa 25 bis 30 feindlichen Mosquitos vermerkt. "Getroffen werden - unter Verwendung von Langzeitzündern - Rollbahn, Unterkünfte und der Ort". Langzeitzünder, so Bürger, seien oft erst eine Stunde später explodiert, wenn die Leute schon beim Wegräumen waren.

Luftbilder zeigen die tiefen Krater der Bombeneinschläge rund um den Flugplatz. Bürger hat auch Fotos, auf denen zu sehen ist, dass die Nazi-Truppen die Flugzeuge im Wald versteckt hatten. Wie viele Soldaten letztendlich am Flughafen stationiert waren, das vermag der Ortschronist nicht zu sagen. Die Chronik endet am 30. April 1945. "Der Feind besetzt den Fliegerhorst Schleißheim." Peter Spoden und seine Mannschaft hatten sich ohne Kampf ergeben. Für Oberschleißheim war der Krieg damit vorbei.

Weitere Texte zum Weltkriegsende in München finden Sie unter sz.de/kriegsende

© SZ vom 27.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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