Deutsche Corona-App:Nadeln sammeln statt Heuhaufen

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Ein Passant mit Mundschutz steht in Köln mit seinem Handy vor einem Grafitti an der Wand eines Clubs. (Foto: Future Image/imago images)

Durch übertriebene Überwachung hat der Staat immer wieder Vertrauen verspielt. Die nun geplante Tracing-App dagegen könnte ein rechtsstaatliches Vorbild werden.

Von Wolfgang Janisch

Zu den großen Unbekannten der Corona-Krise gehört die Frage, wie die Welt danach aussehen könnte. Wird die Welt ein besserer Ort? Und wird der Staat ein besserer Staat, weil er im Angesicht einer existenziellen Bedrohung Augenmaß bewahrt hat? Oder wendet sich alles zum Schlechteren? Einige Länder verfahren ersichtlich nach dem Grundsatz, nie dürfe man die Chancen einer Krise auslassen - und interpretieren das Prinzip in seiner zynischen Version: China optimiert sein digitales Überwachungssystem, Israel will den Inlandsgeheimdienst Bewegungsdaten sammeln lassen, in Tunesien patrouillieren Polizeiroboter und fliegen Drohnen mit Thermokameras.

Und Deutschland? In Deutschland soll eine Tracing-App zum digitalen Spürhund für Infektionsketten werden. Die Idee dahinter ist, dass man mit einer Lockerung des allgemeinen Shutdown zwar mehr neue Ansteckungen riskiert, aber die einzelnen Infektionen mithilfe digitaler Technik präzise zurückverfolgen kann. Weil die Menschen den Einsatz von Informationstechnologie innerhalb ihrer Privatsphäre seit Jahrzehnten nur in zwei Varianten kennengelernt haben, nämlich als pauschale staatliche Datensammelei oder als Ausdruck der Gier globaler Datenkraken, war der erste Gedanke: Obacht! Überwachung! Zwar machte die Corona-App, die von einem Team rund um das Fraunhofer-Institut für Nachrichtentechnik entwickelt wird, zunächst auch auf die kritischen Wächter der digitalen Welt keinen schlechten Eindruck. Dann aber baute sich ein Momentum der Ablehnung auf, befeuert von einem offenen Brief von 300 Wissenschaftlern. Sie skizzierten ein Szenario, wie man es aus vielen Beispielen kennt, in denen der Staat Sicherheit sagt und Freiheitsbeschränkung meint. Eine App, die Gesundheit schützen soll, aber den Überwachungsstaat ausbaut. Ein Trojanisches Pferd.

Manches an der Kritik war sicher überzogen, denn in dem Tracing-Projekt ging es ja nie um die ganz schlimmen Dinge. Standortdaten oder gar identifizierende Angaben waren stets ausgeschlossen. Dennoch hat die Regierung nun eine spektakuläre Wende hingelegt. Sie votiert für einen dezentralen Ansatz - und "dezentral" ist in der Welt des Datenschutzes ein freundliches Wort. Die App, die mithilfe von Bluetooth Abstände zu anderen mobilen Geräten misst, soll dabei nicht nur pseudonymisiert und verschlüsselt speichern. Sie soll vor allem die gesammelten Kontakte nicht mehr auf einem zentralen Server ablegen - weil zentrale Speicher nun mal missbrauchsanfälliger sind. Der entschiedene Schwenk in Richtung Datenschutz trug der Regierung sogar Applaus vom Chaos Computer Club ein.

Natürlich sind noch viele Fragen offen. Funktioniert die App technisch überhaupt exakt genug? Und ziehen die Menschen wirklich mit, weil das Ding ja freiwillig sein soll? Oder droht am Ende doch die Zwangs-App? Und vor allem: Ist das am Ende doch nur der niederschwellige Einstieg in ein fieses Überwachungstool, das Bewegungsprofile aufzeichnet? In der Stellungnahme der Leopoldina-Akademie, die der Kanzlerin so wichtig war, ist von der "Nutzung von freiwillig bereitgestellten GPS-Daten in Kombination mit Contact-Tracing" die Rede. Grund genug also, wachsam zu sein.

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Aber nehmen wir einmal an, alles kommt so wie versprochen. Wäre das nicht endlich mal ein inspirierendes Beispiel dafür, wie man im digitalen Zeitalter Menschenschutz und Datenschutz vereinen kann? Eine vernünftige, zielgenaue und - was die Grundrechte angeht - zurückhaltende Lösung, geboren im Moment einer globalen Bedrohung, in der es um nicht weniger geht als um den Schutz von Menschenleben? Während Autokraten die Bürgerrechte noch kleiner schrumpfen lassen, würde das Mutterland des Datenschutzes mit dem Grundgesetz unterm Arm durch die Krise gehen. Könnte das nicht ein Beleg dafür sein, dass Corona das Schlechteste, aber eben auch das Beste in den Staaten nach außen kehren kann? Gewiss, wer die Risiken der Technik beschwört, der kann dafür viele warnende Beispiele aus dem Ausland anführen. Südkorea ist ein Musterland der technologisch gestützten Corona-Bekämpfung, aber für deutsche Datenschützer vermutlich ein Albtraum; dort werden munter Mobilfunk- und Kreditkartendaten zur Virenfahndung eingesetzt. Oder Indien: Dort ist eine App im Einsatz, die Namen, Alter und Beruf speichert und unablässig Standortdaten sendet. Die Liste ließe sich fortsetzen, aber trotzdem folgt kein zwingender Schluss daraus. Nicht die Technik verletzt die Grundrechte, sondern Staaten, die kein Maß kennen und die Gunst der Stunde für Überwachungsprojekte nutzen.

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Bleibt die Frage, ob Deutschland in Sachen Überwachung zu den Guten oder zu den Bösen gehört. Am 11. September 2001 war eine andere globale Bedrohung jäh ins Bewusstsein der Menschen eingedrungen, auch da ging es um Leben und Tod. Besonders zielgenau war die Reaktion auf den islamistischen Terrorismus wirklich nicht, und dass die Staaten, auch Deutschland, die Grundrechte schonend behandelt hätten, wird auch niemand behaupten. In der ersten Dekade nach den Anschlägen beanstandete das Bundesverfassungsgericht praktisch jedes Gesetz, mit dem die damals noch einigermaßen neue Informationstechnologie zur Terrorbekämpfung eingesetzt werden sollte - Rasterfahndung, Onlinedurchsuchung, automatisierte Kfz-Kennzeichen-Erfassung, Vorratsdatenspeicherung. In den Sicherheitsbehörden wurde die Überzeugung genährt, Datenschutz sei der natürliche Feind der inneren Sicherheit. Der Trend hat sich in den letzten Jahren keineswegs abgeschwächt, im Gegenteil. Nach dem Jahr 2016, das mit dem furchtbaren Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt endete, wurden wiederum Forderungen nach Überwachung und Datenspeicherung laut - nach mehr Videokameras auf öffentlichen Plätzen etwa und nach Systemen der Gesichtserkennung. Das alles waren wahrlich keine vertrauensbildenden Maßnahmen, und vielleicht bereuen die Sicherheitspolitiker manches davon. Denn Vertrauen ist das, was sie nun am dringendsten benötigen. Wenn die Leute nicht mitmachen, wird die Corona-App scheitern.

Interessant sind hier zwei Wesenszüge der Anti-Terror-Maßnahmen. Deren Prinzip ist die Maßlosigkeit, sie sind oft breit und unspezifisch angelegt, mit großflächigen Eingriffen in die Grundrechte jener, die mit Terrorismus nichts zu schaffen haben. Weshalb das Verfassungsgericht Gesetze immer wieder als unverhältnismäßig beanstandet hat. Die Vorratsdatenspeicherung zum Beispiel legt einen gigantischen Heuhaufen aus Kommunikationsdaten an, um hinterher eine Nadel darin zu finden. Und zwar ohne konkreten Anlass - was der Europäische Gerichtshof inzwischen für unzulässig erklärt hat. Die Corona-App wäre dagegen eine anonyme Mini-Vorratsdatenspeicherung. Sie sammelt gleich nur die Nadeln, und dies auch noch dezentral. Zurückhaltung also, und das in einem Moment, in dem alle verdächtig sind, etwas mit dem Virus zu schaffen zu haben. Wir sind alle potenzielle Gefährder.

Der zweite Wesenszug des Anti-Terror-Kampfs ist seine Irrationalität. Peter Schaar, einst Bundesdatenschutzbeauftragter, hat vor ein paar Jahren die Sicherheitsgesetze nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz so charakterisiert: "Fragen nach der Eignung der Maßnahmen für die Terrorabwehr blieben weitgehend unbeantwortet, Kritik wurde vom Tisch gewischt." Kurz darauf wurde die Ausweitung der Videoüberwachung beschlossen - die gegen heranrasende Sattelschlepper nichts ausrichten kann. Anderswo ist das nicht anders. Nach dem Selbstmordanschlag auf der Promenade von Nizza verlängerte Frankreich den Ausnahmezustand - ein "symbolischer Akt, der eher dem Wahlkampf als dem Antiterrorkampf geschuldet war", schrieb Schaar.

Wenn der Staat also aus der Bekämpfung der großen, stillen Gefahr namens Corona etwas lernen kann für die Gewährleistung der Sicherheit auf anderen Feldern, dann ist es Maß und Vernunft. Auffallend an den Debatten der letzten Wochen ist, dass sie hochgradig faktengestützt und vernunftbasiert sind (auch wenn die Tendenz langsam abnimmt). Ansteckungswege werden verifiziert und Vervielfältigungsmodelle durchgerechnet, Zahlen verglichen und Kurven gezeichnet, bevor man Einschränkungen der Freiheit anordnet. Die Politik orientiert sich in einem Maße an empirischen Grundlagen, dass man ihr schon vorgeworfen hat, sie habe die Herrschaft an Virologen abgetreten. Wer dagegen massenhaft Bewegungs- und Kommunikationsdaten speichert, deren Nutzen für die Terrorbekämpfung kaum je präzise evaluiert wurde, der verfährt nach dem Breitband-Motto "Viel hilft viel".

So könnte die Corona-App zum Exempel dafür werden, wie man, smart und digital, Freiheit bewahrt und Grundrechte schützt. Diese Krise birgt eine Chance. Der Staat könnte versuchen, das Vertrauen zurückzugewinnen, das er mit ausufernden Überwachungsbefugnissen aufs Spiel gesetzt hat. "Never miss a good crisis": Daraus könnte am Ende auch ein optimistisches Motto werden.

© SZ vom 28.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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