Freiheitsbeschränkungen:"Die Gesellschaft erobert ihre Freiheiten zunehmend zurück"

Demonstration in München für Wahrung der Grundrechte in Zeiten der Corona-Krise, 2020

In München demonstrierten am Samstag bis zu 30 Menschen für die Wahrung der Grundrechte in der Corona-Krise.

(Foto: Sebastian Gabriel)

Nach dem Durchgreifen der Politik in der Corona-Krise nimmt die deutsche Justiz allmählich ihre Kontrollfunktion wieder wahr. Der Rechtsphilosoph Uwe Volkmann erklärt die Zurückhaltung der Gerichte und weshalb der Staat nicht jedes Leben retten kann.

Interview von Thomas Balbierer

Die Debatte um die Verhältnismäßigkeit der Anti-Corona-Maßnahmen in Deutschland wird immer intensiver geführt. Am Wochenende forderte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) im Interview mit dem Tagesspiegel, dass die Politik ihr Handeln nicht ausschließlich am Schutz des Lebens ausrichten dürfe. Auch ökonomische, soziale und psychologische Folgen müssten bedacht werden. Am Dienstag legte dann Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) nahe, dass man "Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären" nicht unbedingt retten müsste. Palmer hat sich inzwischen für seine Aussage entschuldigt, doch beide Beispiele zeigen: Das Ringen um die richtige Politik in der Pandemie wird härter.

Ähnlich wie Schäuble hatte sich Anfang April bereits der Frankfurter Rechtsphilosoph Uwe Volkmann geäußert. In einem Gastbeitrag für die FAZ schrieb er, das höchste Gut sei "nicht das Leben als solches, sondern das Leben in Würde". Eine "Verpflichtung zum Schutz des Lebens um jeden Preis gibt es nicht", so Volkmann, der als Professor für Rechtsphilosophie und öffentliches Recht an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main lehrt.

SZ: Herr Volkmann, Sie haben vor einem Monat darauf hingewiesen, dass der "totale Schutz" vor dem Coronavirus ohne Berücksichtigung der "gesellschaftlichen Folgekosten" unrealistisch sei. Hat die Politik falsch gehandelt?

Uwe Volkmann: Zumindest läuft die Kommunikation nicht richtig. Man müsste klar angeben, was das Ziel der Beschränkungen ist. Das hat die Kanzlerin in ihrer Regierungserklärung gemacht: Es geht um eine kapazitätsgerechte Steuerung der Pandemie, also um die Verhinderung italienischer Zustände in den Krankenhäusern. In anderen Darstellungen ist das nicht immer so eindeutig. Der bayerische Ministerpräsident hat die Beschränkungen mit dem Satz begründet "Jede Infektion, jeder Tote ist zu viel". Das ist ein Ziel, das man realistisch nicht erreichen kann. Wenn wir in anderen Politikbereichen auch so verfahren würden, hätten wir längst nicht nur ein Tempolimit auf Autobahnen, sondern müssten das Autofahren generell verbieten.

Das ist dieselbe Auffassung, die auch Wolfgang Schäuble vertritt.

Schäuble hat mit seiner Äußerung eine Kontroverse hervorgerufen, dabei hat er nur ausgesprochen, was bis zu Beginn der Corona-Krise allgemeiner Konsens in der Bundesrepublik war. Dass es in der Rangfolge unserer Güterwerte innerhalb der Verfassung nur eines gibt, was über allem anderen steht, und das ist die Menschenwürde. Deshalb kann es bei der Bekämpfung der Krankheit nur darum gehen, Situationen zu vermeiden, in denen Krankenhäuser entscheiden müssen, wer weiterleben darf und wer nicht. Aber die Vermeidung von Krankheit oder Ansteckung um jeden Preis kann kein sinnvolles Ziel von Politik in dieser Lage sein.

Glauben Sie, dass das in der Bevölkerung auch so gesehen wird?

Offenbar nicht, wie die Debatte über Schäubles Äußerungen zeigt; viele sind ja geradezu empört. Aber die Menschenwürde ist nicht gegen Leben abzuwägen, sie setzt sich im Konfliktfall gegen den Schutz des menschlichen Lebens durch, und zwar ganz grundsätzlich. Wir dürfen niemanden foltern, um das Leben von anderen Menschen zu retten. Wir dürfen keine von Terroristen gekaperten Passagierflugzeuge abschießen, um andere Leben zu retten. Wir dürfen einem Toten nicht einfach jedes noch funktionierende Organ entnehmen, um Leben zu retten.

Zu Beginn der Krise hielten sich Parlamente und Gerichte stark zurück, die Regierungen konnten ihre Maßnahmen schnell umsetzen. Hat die Justiz ihre Kontrollfunktion vernachlässigt?

Die Gerichte haben sich am Anfang in der Tat zurückgehalten. Das war aber auch nicht anders zu erwarten. Die Handlungsmöglichkeiten von Gerichten in einer solchen Krise sind begrenzt. Das hat sich aber mittlerweile geändert. Die Gerichte sind im Laufe der Zeit immer mutiger geworden und sie haben den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in einigen Bereichen wieder zur Geltung gebracht.

Dennoch haben die Gerichte bislang höchstens Detailkorrekturen vorgenommen und nicht den politischen Kurs an sich in Frage gestellt.

Das ist richtig, aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zielt auch nicht auf großflächige, sondern auf differenzierende Lösungen. Die Gerichte bewerten einzelne Maßnahmen und überlegen: Ist das im Verhältnis zur Schwere des Eingriffes angemessen? Gibt es auch mildere Mittel? Ist das Mittel überhaupt geeignet? Das kann nur von Teilbereich zu Teilbereich ermittelt werden.

Haben Sie den Eindruck, dass die Gerichte ihre Rolle als Korrektiv wieder stärker wahrnehmen?

Ja, auch im Zuge der zunehmenden gesellschaftlichen Kritik und politischen Diskussionen. Eine wichtige Frage haben die Gerichte bislang aber nur ansatzweise gestellt: Ob die dünne Ermächtigungsgrundlage durch das Infektionsschutzgesetz ausreicht, um diese weitgehenden Freiheitseinschränkungen zu rechtfertigen. Die sind praktisch ausschließlich im Verordnungsweg, also nicht von den Parlamenten, sondern von den Regierungen so beschlossen worden. Eigentlich hätten die Gerichte sagen müssen: Das reicht als Grundlage für diese Eingriffe nicht aus.

Rechnen Sie mit strengeren Urteilen?

Im Augenblick eher nicht. Bei den aktuellen Verfahren handelt es sich häufig um Eilverfahren. Die Rechtslage kann also gar nicht umfassend aufgearbeitet werden, es finden allgemeine Abwägungen statt. Die Detailfragen werden möglicherweise später geprüft. Aber ich hätte mir schon gewünscht, dass die Gerichte die Frage, ob die Freiheitsrechte flächendeckend durch Notverordnungen beschränkt werden können, offensiver ansprechen.

Am Montag erklärte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof das Verkaufsverbot für große Geschäfte für verfassungswidrig. Sie dürfen nun auf 800 Quadratmetern eröffnen. Im Saarland darf ein großes Möbelhaus vollständig öffnen, Galeria Kaufhof Karstadt nur mit Größenbeschränkung. Haben Sie noch den Überblick über die Verordnungen in den 16 Bundesländern?

Dass Gerichte gleiche Sachverhalte unterschiedlich beurteilen, kommt immer wieder vor. Die grundrechtlichen Maßstäbe sind sehr offen, sie können mehr oder weniger strikt gehandhabt werden.

Das bayerische Urteil sorgte für Verwirrung, weil die Richter die verfassungswidrige Verordnung angesichts der Pandemie "ausnahmsweise" nicht außer Kraft gesetzt hatten. Wenige Stunden später erlaubte die Regierung größeren Geschäften dann doch, auf 800 Quadratmetern zu öffnen. Waren die Richter zu zaghaft?

Wenn die Regelung aus Sicht des Gerichts verfassungswidrig ist, hätte sie aufgehoben werden müssen. Dass das wegen der Notlage nicht geschehen ist, halte ich für ein Problem. Die Richter waren in diesem Fall für mein Empfinden zu zurückhaltend.

Uwe Volkmann

Uwe Volkmann ist Professor für Rechtsphilosophie und öffentliches Recht an der Goethe-Universität in Frankfurt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Verfassungs- und Demokratietheorie, im Grund- und Parteienrecht.

(Foto: Uni Frankfurt)

In einem Land dürfen Einkaufszentren öffnen, im anderen nicht. Buchläden, Autohäuser und Baumärkte sind von der 800-Quadratmeter-Grenze ausgenommen und in Nordrhein-Westfalen sind auch Möbelhäuser wieder offen. Verstehen Sie, dass manche das Vorgehen bei den Lockerungen als willkürlich empfinden?

Die Kritik ist nachvollziehbar. Das liegt daran, dass einige Gerichte nicht stark genug kontrollieren. Dass diese 800-Quadratmeter-Grenze ein Problem ist, steht der Sache ja schon auf die Stirn geschrieben. Man hätte schon deutlich früher erkennen müssen, dass das mit dem Gleichheitssatz kaum zu vereinbaren ist.

Im Saarland hat der Verfassungsgerichtshof am Dienstagabend die strengen Ausgangsbeschränkungen teilweise aufgehoben. Erwarten Sie, dass die Regelungen der Landesregierungen nun auch woanders gekippt werden?

Saarland und Bayern haben die bundesweit härtesten Regelungen. Sie sehen vor, dass man die Wohnung nur aus "triftigen Gründen" verlassen darf, die Polizei kann das kontrollieren. In anderen Bundesländern darf man die Wohnung beliebig verlassen und muss sich nur an bestimmte Verhaltensregeln halten. Die saarländische und bayerische Regelung halte ich für hochproblematisch, weil sie die Idee der grundrechtlichen Freiheit umdreht. Nicht der Bürger muss sich für den Gebrauch seiner Freiheiten rechtfertigen, sondern der Staat für die Beschränkung dieser Freiheit. Diese Rechtfertigungslast kehrt sich im praktischen Vollzug um. Der Bürger muss sich plötzlich vor der Polizei rechtfertigen, wenn er den Fuß vor die Tür setzt.

Sie haben Anfang April vor einem "Klima der Angst" gewarnt, das den "Geist der Freiheit nach und nach erstickt". Damals waren die Corona-Maßnahmen erst kurze Zeit in Kraft. Nun wird laut um Lockerungen gerungen - ist Ihre Sorge um die Freiheit dadurch kleiner geworden?

Insgesamt schon. Als ich das geschrieben habe, war ich wirklich niedergedrückt von dem Ausmaß der Freiheitseinschränkungen und der Plötzlichkeit, mit der sie verkündet wurden. Auch von der Bereitwilligkeit, mit der das in der Gesellschaft angenommen wurde. Mittlerweile bin ich etwas optimistischer, die Gesellschaft erobert sich vor dem Hintergrund sinkender Neuinfektionen ihre Freiheiten zunehmend zurück. Die Frage ist, wie Politik in so einer Lage steuert: mit Appellen an Vernunft und Einsicht oder durch den Einsatz von Angst?

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Hat die deutsche Politik gezielt ein Klima der Angst erzeugt?

Ich weiß nicht, ob es die gezielte Erzeugung eines solchen Klimas war. Es ist jedenfalls wenig unternommen worden, um der Bevölkerung die Angst zu nehmen. In den Nachrichten sind wir mit der starken Ausbreitung des Virus, Todeszahlen und niederschmetternden Berichten aus Spanien und Italien konfrontiert worden. Das hat zu einem allgemeinen Klima der Angst und Bedrückung beigetragen. Ich würde aber nicht unterstellen, dass Angst bewusst als politisches Steuerungsmittel eingesetzt worden ist.

Haben Sie Angst vor einem zweiten Lockdown mit neuen negativen Folgen für die Freiheitsrechte?

Ja.

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